5
Die Erbsensuppe schmeckte grauenvoll. Sie war dünn, und sie roch verdorben. Erbsen sah er keine. Nur diesen sämigen grünlich braunen Brei, der vom Holzlöffel tropfte. Aber nach zwei Tagen, die er halb schlafend, halb delirierend im Bett verbracht hatte, musste er dringend etwas zu sich nehmen, um zu Kräften zu kommen.
Venray versetzte die Suppe mit einem ordentlichen Schuss Essig. Jetzt war sie noch dünner und viel zu sauer, aber wenigstens schmeckte er nicht mehr das Verdorbene. Wahrscheinlich würde diese Mahlzeit Koliken, Durchfall oder andere Beschwerden verursachen, essen musste er dennoch. Er riss sich zusammen und frühstückte weiter, ohne zu murren.
Was für eine Nacht! Heute Abend würde er nicht mehr in diesem Erzählband lesen wie am Abend seiner Ankunft. Da hatte er, weil ihm einfach nicht warm werden wollte und er nicht in den Schlaf fand, in den Sagen der nordischen Götter gelesen. Eines seiner Lieblingsbücher im halbwüchsigen Alter. Heute bekam ihm das Göttergemetzel offensichtlich nicht ganz so gut.
Die Asen aus Asgard hatten ihm fürchterliche Alpträume beschert. Blutrünstig. Rachsüchtig. Gnadenlos. Nie um einen Mord, Verrat oder ein anderes niederträchtiges Verbrechen verlegen. Diese vermeintlichen Götter waren nichts anderes als Diebe, Grobiane und Raufbolde, kurz: Verbrecher. Die Taten lasen sich wie die Steckbriefe, die er an gewöhnlichen Arbeitstagen verfasste. Und die Göttinnen dieses edlen Geschlechtes waren keinen Deut besser. Die Asen waren samt und sonders kriminelle Schwerverbrecher, deren Walhall das Zuchthaus sein sollte!
Odin, der Allmachtsvater, erinnerte ihn in gewisser Weise an den gegenwärtigen König Ludwig von Frankreich. Beides waren gewissenlose Tyrannen, die alles dafür taten, um ein Machtsystem aufrechtzuerhalten, das eigentlich in die Mottenkiste gehörte. Wenn Loki, der Gott der List, wieder einen seiner meist mit Gewalt und Erniedrigung verbundenen »Streiche« verübte, hatte das Venray früher Vergnügen bereitet. Heute verursachte ihm dieses Weltbild Kopfschmerzen. Auch in Frankreich regte sich Widerstand. Doch wann würden die dringend benötigten Veränderungen einsetzen?
»Fast so schlimm wie bei den alten Griechen«, murmelte Venray und pustete über die Suppe, bevor er begann, sie vorsichtig zu schlürfen. Dazu trank er einen Krug mit gewärmtem Bier mit einem kräftigen Schuss Branntwein. Mit ein bisschen Brot würde das nahrhafter sein als die Suppe. Aus diesem Gedanken heraus rief er laut: »Gib mir Brot, Patroklos!«
Dabei vergaß er, dass sein Diener Wittib gar nicht in der Nähe weilte. Der hätte den Scherz verstanden. Der Wirt Johann Wilhelm Ersterer und seine Frau Gerlinde begriffen schlicht nicht, was ihr eigentümlicher Gast von ihnen wollte. Weder hatte dieser Gast seinen Namen genannt noch sonstige Auskünfte erteilt. Zahlen konnte er allerdings, und das genügte. So erhielt Venray eine dicke Scheibe trockenes Schwarzbrot. Genau das Richtige, um es zu zerbröckeln und im warmen Bier aufweichen zu lassen.
»Welcher Tag ist heute?«, fragte Venray, während er dem Brot beim Aufquellen zuschaute.
»Es ist Mittwoch, der vierte Tag im Schmelzmond«, erwiderte die Wirtin.
Und ihr Mann fügte hinzu: »Von Schmelze ist aber nichts zu spüren. Gestern Nacht hat es wieder geschneit.«
»Es ist eine schlimme Zeit. Wir haben schon seit Wochen kaum noch Gäste«, klagte die Frau. »Längst sollte es tauen. Spät wird die Aussaat beginnen. Und die richtigen Hungermonate stehen uns erst noch bevor, wenn auch die letzten Vorräte verbraucht sind und noch nichts nachgewachsen ist. Ihr seid unser erster Gast seit … Ich weiß nicht mehr! Was führt Euch her?«
»Ich will den Deich besichtigen«, meinte Venray.
»Welchen Deich?«, fragte der Wirt ungläubig.
»Er meint sicherlich den Wall am Rhein«, mutmaßte die Wirtin, als wäre er nicht im Raum. »Das ist die einzige Sehenswürdigkeit weit und breit.«
»Was gibt es dort zu sehen?«, wollte Venray wissen.
»Das muss man selber sehen, sonst glaubt man es nicht«, erklärte die Wirtin.
Als er sich kurz darauf ankleidete, den Schankraum durchquerte und sich anschickte, das Wirtshaus zu verlassen, fragte ihn der Wirt: »Wo wollt Ihr hin?«
»Ich will zum Deich oder Wall, wie Ihr es nennt.«
»Ja, aber das war doch nur …«, begann die Wirtin, wusste gar nicht, wie sie ihr Entsetzen in Worte fassen sollte. »Seid Ihr denn von allen guten Geistern verlassen? War es Euch vorgestern nicht genug, dem Tod von der Schippe gesprungen zu sein?«
Venray sagte nichts dazu. »Holt mir eine Karte«, befahl er stattdessen, und die Augen der Wirtin wurden immer größer.
»Was für eine Karte?«
»Einen Stadtplan von Mülheim«, entgegnete Venray ruhig. »Und beordert mir Monsieur Le Maire hierher. Ich beabsichtige, mit ihm zu sprechen.«
Die Frau konnte nicht mehr an sich halten. Prustend begann sie zu lachen. »Wen darf ich denn dem Herrn Bürgermeister Brünninghausen melden, den König von Frankreich?«
Venray entzündete seine Pfeife. Der König von Frankreich. Seltsam, an den hatte er vorhin auch gedacht. »Der hätte hier nicht mal halb so viel zu sagen wie ich«, entgegnete er gelassen. »Man würde ihm wohl trotzdem viel gestatten. Derweil meldet Freiherr van Venray, Amtmann Seiner Durchlaucht Kurfürst Carl Theodor.«
Er ließ die verdutzte Frau stehen. Draußen kam ihm der Wirt hinterhergelaufen und entschuldigte sich vielmals für das Betragen seiner Frau. »Wir hatten ja keine Ahnung«, erklärte der Mann.
»Lasst gut sein. Besorgt mir Karten von Mülheim!«
Ersterer nickte, doch dann schüttelte er energisch den Kopf. »Woher soll ich die bekommen?«
»Es gibt doch ein Rathaus, oder?«
Und als der Wirt das bestätigte und erklärte, wo das Rathaus zu finden sei, schloss Venray: »Dort geht hin, holt die Karten und lasst Euch nicht von einer Schranze mit Federkiel abwimmeln, verstanden? Und jetzt sagt mir: Wo geht es zum Rhein?«
»Gleich da vorne«, sagte der Wirt und zeigte die Straße hinunter nach Westen.
Die Angabe sollte sich als richtig erweisen. Venray ging lediglich über den kleinen Marktplatz, den er daran erkannte, dass er etliche schneebedeckte Bretterbuden sah. Dann folgte er einer engen, kurzen Gasse, in der sich der Schnee türmte, dass er regelrecht balancieren musste, um zwischen den Schneehaufen hindurchzukommen, die links und rechts an die Häuser geworfen waren, bis man es aufgegeben hatte, den Schnee wegzuräumen. Er betrat die freie Uferpromenade und kam sogleich aus dem Staunen nicht heraus. Die Wirtin hatte nicht übertrieben, es war ein einzigartiges Naturschauspiel, was er hier geboten bekam. Doch von einem Deich hatte sie nicht gesprochen, sondern von einem mindestens zwei Klafter hohen Wall. Einem Wall aus Eis. Nicht mit einberechnet war bei dieser Schätzung der Höhenunterschied von der Promenade, auf der er stand, bis hinab auf Rheinniveau. Etwas Vergleichbares hatte Venray noch nie gesehen, und er bezweifelte, dass er so etwas je wieder zu Gesicht bekommen würde.
Ein schroffes Gebirge aus Eisplatten mit zahllosen Gipfeln und schneebedeckten Hochplateaus zog sich vom Süden bis weit in den Norden Mülheims entlang des Rheinufers. Tiefe Schluchten folgten dicht auf steile Grate. Abbruchkanten, spitz und tückisch wie Dolche, brachen das spärliche Licht der Morgensonne. Ein bizarres Trümmerfeld aus Eis.
Er drehte sich um und sah direkt auf eine kleine Kirche, die erhöht am Rheinufer stand.
Kurze Zeit später überblickte Venray vom Turm dieser Kirche aus den Verlauf des zugefrorenen Rheins, der sich in einer weit gewundenen Biegung Richtung Norden schlängelte. Um den Turm der St.-Clemens-Kirche schnitt ein eisiger Wind. Lange würde es Venray hier oben nicht aushalten, aber er wollte sich aus erhöhter Position einen besseren Eindruck von der Gesamtlage verschaffen. Der Eiswall verlor auch aus der Höhe nichts von seiner imposanten Erscheinung.
Es hatte ihn einige Überredungskünste gekostet, erst den Küster und schließlich den katholischen Pfarrer Heinrich Coenen davon zu überzeugen, dass es für seine Aufgabe zwingend notwendig sei, den Turm zu besteigen und einen Rundumblick über Rheinmülheim zu haben. Nun stand er auf der Westseite des Turms, blickte auf die weiße breite Fläche, die sich wie eine gigantische unter Eis und Schnee schlafende Schlange durch die Landschaft zog.
Richtung Norden erkannte er die Häuser einer Ortschaft, es musste Stammheim sein. Nicht ganz so weit im Norden erblickte er auch eine große Krananlage. War das die berühmte Anlage, mit deren Hilfe die Mülheimer das Cölner Stapelrecht umgingen? Mehrere Schreiben von Cölner Ratsherren und anderen Beamten, die alle den Abbau des Krans einforderten, waren auch über seinen Schreibtisch gewandert. Bisher erfolglos. Aber das mochte nichts heißen. Cöln war mächtig und verfügte über viel Einfluss am Hof – jedenfalls lieh der Wiener Hof den Cölner Belangen bereitwillig ein Ohr.
Gegenüber, am anderen Rheinufer, stand ein großes zweistöckiges Gebäude, dessen Funktion ihm unbekannt war. Ob es ein Gutshof war? Ganz weit im Süden erkannte er die freie Reichsstadt selbst – Cöln. Der »Erzfeind« des bergischen Herzogtums. Er selbst empfand die Dämonisierung als schlechten Stil. Aber es gab auf beiden Seiten Leute, die sich bereitwillig einer Verteufelung des Gegners bedienten.
Im dämmrigen Licht traten die Umrisse des Doms hervor, dieses spektakulären Kirchenbauwerks, über die Landesgrenzen hinaus berühmt, das ebenso spektakulär wie bisher unvollendet geblieben war. Eine unerklärliche Tatsache, die in Düsseldorfer Amtsstuben gern für spöttische Bemerkungen sorgte. Die Stadt selbst wurde von der davor gelegenen Flussbiegung und einer Insel verdeckt. Auf der Ostseite der Insel begann der Mülheimer Hafen. Venray sah zahlreiche Kähne, Boote und andere Schiffe. Viele der Flussschiffe waren zerstört, vom Eis zerquetscht – ein beträchtlicher Schaden.
Fast unmittelbar unter ihm lagen, am Ufer vertäut und ebenfalls im Eis eingeschlossen, zahlreiche Pontonschiffe. Sie bildeten vermutlich sommers die weithin bekannte Pontonbrücke, die die rechte mit der linken Rheinseite verband und seinem Pächter beachtliche Summen durch Fährkosten und dem Besitzer Kurfürst Carl Theodor in seiner Funktion als bergisch-jülischer Herzog ein ebenso sattes Sümmchen an Steuern einbrachte. Auch einige der Pontons waren nur noch Holzschrott.
Er ging um die Brüstung und stand nun auf der Südseite des Turms. Von dort aus blickte er entlang des Bachs Strunde Richtung Osten, um das Bauwerk ausfindig zu machen, dessentwegen er hier war – ein Deich, der Mülheim vor allem auch vor der jährlich anstehenden Überflutung aus dem Hinterland schützen sollte. Er sah einige der Mühlen entlang des Baches, unter anderem die kurfürstliche Cameralmühle. Diese Mühlen hatten dem Ort seinen Namen gegeben. Er konnte weit blicken, denn die Häuser waren nicht höher als zwei Stockwerke. Aus den Kaminen quoll dunkelgrauer Rauch und stieg auf, um sich irgendwo weiter oben mit dem Grau in Grau der Himmelsdecke zu vereinen. Eine Himmelsdecke, die so schwer zu wiegen schien, dass man nach vielen Monaten, in denen die Sonne kaum hindurchgeblickt hatte, die bleierne Schwere förmlich spüren konnte.
Venray suchte den Horizont ab. Irgendein Anzeichen des Baus sollte er erkennen können. Eigentlich mussten zahlreiche Arbeiter auf der Baustelle beschäftigt sein, das konnte man doch unmöglich übersehen. Aber selbst mit Fernrohr erblickte er nur eine weiße Schneedecke. Er würde vor Ort nachschauen müssen. Das konnte nichts Gutes bedeuten.
Bevor er sich aber auf den Weg machte, nahm er die Gelegenheit wahr, sich ein genaueres Bild vom Eiswall und der Situation zu machen. Die St.-Clemens-Kirche, auf deren Turm er sich befand, stand auf einer exponierten mit hohen, festen Mauern geschützten Anhöhe. Der Kirche drohte im Falle der Flut kaum Gefahr. Anders sah es bei den übrigen Häusern aus. Sie lagen tief, fast auf Flussniveau, und komplett offen. Es gab keine Stadtmauer oder sonstige Uferbefestigung, die auch nur einen geringen Schutz geboten hätte.
Wasser war in seiner ungezügelten Form als Sturm oder Flut, das wusste er aus eigener Erfahrung, ein Element, das mit rein gar nichts aufzuhalten war. Wasser fand immer einen Weg. Es war die zerstörerischste Kraft, die er kannte. Nur vergleichbar mit einem Erdbeben oder einem Vulkanausbruch. Wozu Wasser fähig war, wurde gern unterschätzt. Und das, obwohl »Vater Rhyn« als besonders tückisch galt. Viele Menschen waren schon in seinen Unterwasserströmungen und Strudeln auf Nimmerwiedersehen verschluckt worden. Was würde passieren, sobald die Schmelze einsetzte?
Denn dort unter ihm, wo sonst die Wellen an den Mülheimer Strand plätscherten, erhob sich das viele hundert Meter lange, mindestens zwei Lastkähne breite Monstrum aus ineinander verkeilten und übereinandergeschobenen Eisbrocken und Schollen, die hier seit Wochen und Monaten während des Winters genügend Zeit gehabt hatten, sich anzusammeln. Und es war mindestens so hoch wie die zweistöckigen Häuser auf der Mülheimer Freiheit. Es handelte sich um ein einzigartiges Naturphänomen.
Nicht nur hatte er so etwas noch nie gesehen, er konnte sich auch nicht erinnern, jemals von einer so ungewöhnlich großen Eisformation gehört oder gelesen zu haben. Und wenn das wirklich eine noch nie da gewesene Tatsache war, anhand welcher Informationen sollte er ausrechnen können, was passieren würde? Was würden diese Eisschollen anrichten? Würden sie von der Flutwelle in die Stadt gedrückt oder vorgespült werden?
Wie es ihm vorhin der Küster mit bildhaften Worten beschrieben hatte, wurden die Wellen sonst allein durch Gottes Klang in Form der Kirchglocke von St. Clemens gelenkt. Venray hielt nichts von derartigem Aberglauben. Was würde passieren, wenn die Wellen der Schmelzwasserflut auf all das Eis trafen? Was würde passieren, wenn das Eis auf dem Wasser »ging«? Eines war sicher, die Glocke würde läuten, heftiger denn je, aber nur, um die Mülheimer Bevölkerung zu warnen. Keine einzige Welle würde sich lenken lassen.
Das Einzige, was minimalen Schutz bot, war ein Deich.
Er blickte nochmals ins Landesinnere auf die Stadt. Menschen sah er keine auf der Straße. Rheinmülheim war ein beschaulicher, beachtlicher, aber auch seltsamer Flecken. Als Markt- und Handelsplatz war die Stadt weit über alle Grenzen hinweg bekannt. Es gab hier fast mehr Händler, Kaufleute für Wein, Tabak und andere Handelsgüter sowie zahlreiche Fabrikanten als im gegenüberliegenden Cöln. Mülheim war wichtig, nicht nur für das bergische Herzogtum. Hier saß so unglaublich viel Vermögen, dass der Herzog ihn, Venray, mitten im schlimmsten Winter seit Menschengedenken hierhergeschickt hatte.
Die Menschen galten als selbstbewusst und eigensinnig, ja sogar aufmüpfig. Freie Bürger. Privilegiert wie selbst manche Adlige nicht. Anders als an anderen Orten lebten Katholiken, Protestanten und Juden hier in friedlichem Miteinander. Die Handelsmacht der Stadt wurde vor allem vom viel größeren Cöln als Bedrohung empfunden. Und dennoch war dieser ganze Stolz, der Prunk, diese »Bedrohung«, nach drei Straßen vorbei. Die freie Stadt Mülheim am Rhein war nicht viel größer als ein Dorf.
Venray musste sich vor Ort umschauen. Hier hatte er vorläufig genug gesehen. Er stieg den Turm hinab. Weder Küster noch Pfarrer waren zu sehen. So ging er grußlos und kehrte durch die Kirchgasse zurück auf die Mülheimer Freiheit, auf der sein Gasthof »Zum goldenen Wagen« lag. Er wärmte sich eine halbe Stunde am Ofen auf, trank dabei einen Becher heißen Branntwein, den die Mülheimer selbst brannten, und ging dann in den Stall, um ein Pferd zu satteln.
Venray streichelte die Gamaschen des Friesen und blickte hinauf auf die Stirn, auf der das Tier eine besondere Färbung hatte. Selten bei Rappen. Seit ihrem Abenteuer vor zwei Tagen hatte Venray eine ihm vorher etwas fremde Zuneigung zu diesem Pferd gefasst. Die Sache hatte zusammengeschweißt. Befremdlich empfand er die offene Vergötterung von Pferden, die viele andere Männer seines Standes betrieben. Pferde wurden weit mehr umsorgt und geliebt als Gemahlinnen, die man häufig als notwendiges Übel ansah. Generell wurde die Frau als niedere Lebensform betrachtet, denn sie hatte nahezu keine Rechte.
Venrays Liebe hatte immer mehr der See als den Vierbeinern gegolten. Bei diesem Pferd war das anders. Friesen fristeten gewöhnlich ein Leben als gewöhnliches Arbeits- und Kutschpferd, doch Venray beschloss, das Tier zu seinem persönlichen Reitpferd zu machen. Die Alpträume der letzten Nacht hatte er nicht vergessen. Und so taufte er den Rappen auf den Namen »Vidar«, den des Sohnes Odins, der den Fenriswolf erschlug.
Vom Wirt hatte er erfahren, dass eines seiner sechs Kutschpferde die Strapazen nicht überlebt hatte. Der Wirt hatte bei der Mitteilung keinen besonders traurigen Eindruck gemacht. Venray wusste auch, warum, denn der Wirt erbat seine Erlaubnis, das tote Pferd verwerten zu dürfen. Auch wenn ihm der Gedanke missfiel, stimmte er dem zu. Der Speiseplan konnte eine deutliche Veränderung vertragen.
Venray saß auf und wollte vom Hof reiten. Der Wirt kam ihm entgegen.
»Ersterer«, rief Venray ihm zu. »Bereitet mir in der Schankstube einen großen Arbeitsplatz. Für mindestens zwei oder drei Gehilfen. Und verständigt mir den Hofbaumeister Kees.«
Ersterer nickte.
»Gut, sagt mir noch eins«, sagte Venray. »Wer ist der beste Schmied in Mülheim?«
»Der Grinkenschmied«, erwiderte der Wirt ohne Zögern. »Im Wald zwischen Buchheim und Schönrade findet Ihr ihn.«
Venray verließ die Stadt im Süden und wandte sich dann Richtung Osten. Erst wollte er die Deichbauarbeiten besichtigen und danach den Schmied aufsuchen. Er beabsichtigte, seinen im Duell mit dem Räuber beschädigten Säbel reparieren zu lassen.
Er ritt über eine weithin unberührte Schneefläche und fragte sich, wieso er das, was er suchte, nicht schon längst gefunden hatte. Hier musste er doch sein, der Deich, der Mülheim vor der Schmelzwasserflut im Frühjahr beschützen sollte. Das wichtige Bauwerk, das bereits im Dezember letzten Jahres beschlossen und dessen Ausführung mit besonderer Eile vorangetrieben worden war. Aber er sah rein gar nichts.
Er wollte nicht daran denken, was das eigentlich bedeutete.
Venray lenkte Vidar einen nicht mehr als einen Klafter hohen Hügel hinauf, in der Hoffnung, seine Vermutung widerlegt zu finden. Er fluchte bereits innerlich, als er begann, diesen »Hügel«, über den er ritt, etwas genauer zu inspizieren. Er sprang vom Rücken seines Pferdes und blickte die Kammlinie der Erhöhung entlang. Es handelte sich eher um einen kleinen Wall, der ziemlich konstant auf einer Höhe in genau die Richtung führte, in der der Deich laut Planungen verlaufen sollte. Er hatte den Deich gefunden. Er stand darauf!
Auf dem Bauwerk türmte sich der Schnee. Wie lange wohl schon nicht mehr daran gearbeitet worden war? Dieser Deich war lange nicht hoch genug, um eine normale Flut abzuhalten. Was würde also angesichts dessen passieren, was sich da draußen auf dem Rhein ankündigte?
Venray schüttelte fassungslos den Kopf. Wie konnten die als so ungemein fortschrittlich geltenden Mülheimer an dieser Stelle nur so nachlässig, nein, fahrlässig sein? Jetzt musste er doch erst zum Rathaus reiten und mit dem Bürgermeister sprechen, bevor er sich auf den Weg zum Schmied machen konnte.
Innerlich tobend vor Wut und Fassungslosigkeit, wollte er eben wieder aufsitzen, als ihm eine Spur im Schnee auffiel, die sofort seine gesamte Aufmerksamkeit in eine ganz andere Richtung lenkte. Er sah eine Wolfsspur. Und da noch eine! Und eine dritte.
Eilig schwang er sich auf Vidars Rücken und folgte den Spuren. Schnell gesellten sich zu den Abdrücken weitere hinzu. Schon gestern hatte Venray die Fährten des Wolfsrudels als sehr beunruhigend empfunden, weil sich die Raubtiere zu nahe an menschliche Siedlungen heranwagten. Sie kamen nun schon in Sichtweite einer Stadt. Wie lange musste der Winter noch dauern, bis der Hunger die Wölfe in die Städte hineintrieb?
In gut dreihundert Fuß Entfernung sah Venray etwas auf dem Boden liegen. Die Wölfe hatten also ein Opfer gefunden und ein anderes Tier gerissen. Vielleicht eine Kuh oder ein Ochse. Vidar wurde unruhig. Seine Nüstern weiteten sich. Das Pferd witterte Gefahr. War es möglich, dass sein Vidar die Wölfe noch riechen konnte? Dann durfte der Vorfall gar nicht lange her sein. Denn bei der Kälte verflüchtigten sich Gerüche schneller als bei wärmeren Temperaturen. Er ließ Vidar anhalten, beruhigte das Tier und ging zu Fuß weiter.
Die Spuren wurden mehr und mehr und zogen sich aus dem Umkreis zusammen. Es musste ein ganzes Rudel gewesen sein. Die Tiere hatten das Opfer immer weiter eingekreist. Ob es dasselbe Rudel war, das er vor zwei Tagen gesehen hatte, oder ein weiteres, ließ sich nicht bestimmen.
Je näher Venray dem toten Körper kam, umso besser erkannte er, dass es sich nicht um eine Kuh oder Ähnliches handeln konnte. Was da lag, war viel kleiner. Blutspuren breiteten sich im weiten Umkreis um den toten Körper aus. Nach ein paar weiteren Schritten hatte er Gewissheit, denn er konnte Stiefel erkennen. Es handelte sich um einen Menschen.
Rasch blickte er sich um, aber die Tiere waren natürlich über alle Berge, und auch sonst war niemand in der Nähe. Venray trat jetzt näher an die Leiche. Allerdings wollte er nicht in den blutgetränkten Schnee steigen und begann, den Leichnam zu umrunden. Er hatte auf der Jagd schon oft Waidstellen gefunden, an denen von Wölfen gerissene Tiere lagen. Das Blut des getöteten Tieres, im weiten Umkreis verteilt, war stets ein abstoßender Anblick. Hier sah es ähnlich aus, nur handelte es sich nicht um eine Wildsau oder einen Hirsch, sondern um einen Menschen.
Das Rudel hatte ganze Arbeit geleistet und so lange am Fleisch gerissen, wie es die Temperatur zuließ. Ein Gesicht war nicht mehr zu erkennen. Der Brustkorb war ausgehöhlt, die Organe und Innereien aufgefressen. An anderen Körperstellen war der Tote bis auf die Knochen angefressen. Eine Wolfsleiche! Auch das noch!
Alles, was Venray noch erkennen konnte, war ein Teil der Kleidung. Die Wolfsleiche trug den Habit einer Ordensgemeinschaft. Der Tote war ein Geistlicher!