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Das Kerzenwachs tropfte unablässig. Beständig war es von den vielen Armen des Kerzenständers hinabgetropft und hatte auf dem Boden, auf den Polstermöbeln wie am Ständer selbst bizarre Formen ausgebildet. Er beobachtete gern, wie aus den weißen Flecken illustre Gebilde wurden.
Es war spät in der Nacht. Seit Stunden wurde um ihn herum nach Herzenslust den Leidenschaften gefrönt, sodass auch er jegliches Zeitgefühl verloren hatte. Die Kerzen waren dabei, zu erlöschen, und mussten erneuert werden.
Die letzten Tropfen heißen Wachses suchten sich neue Wege, während er sich abmühte, neue Kerzen aufzusetzen und zu entzünden. Die durchsichtige Flüssigkeit quoll über einen Rand, der sich als natürliche Barriere aus ausgehärtetem Wachs gebildet hatte. Bald sammelte sich erneut so viel von der heißen flüssigen Masse an, dass sie wieder überlief, an einem Stalaktiten aus Kerzenwachs entlangrann und an der Spitze hinabtropfe. Er blickte dem Tropfen hinterher.
Das heiße Wachs landete auf der Brust einer älteren Frau, die sich unterhalb auf einer Récamiere aalte. Das Gesicht der Dame wurde von einer Maske verhüllt. Sie gab stöhnende Laute von sich. Ganz wie es die Mode verlangte, trug sie ihre Kleider und hatte nur das entblößt, was nötig war, um fleischliche Sinnesfreuden zu genießen. Er kannte den Namen der Frau, genauso wie den ihres Galans. Der sich über sie beugte, während er an seinem Glied herumhantierte, um es seiner Gespielin einzuführen. Seine grauen langen Haare wallten unter der Maske hervor, und er schien einige Schwierigkeiten mit der Standfestigkeit seines Geschlechts zu haben. Ob es an seinem Alter lag oder er schlicht nicht erregt genug war, konnte er, der momentan lediglich Betrachter war, nicht wissen.
Als aber der Tropfen heißen Wachses die empfindliche Haut am Busen der Frau berührte, geschah etwas, das sogar ihn in Erstaunen versetzte. Statt vor Schmerzen aufzuschreien, stöhnte sie lustvoll auf, als stünde ihr Höhepunkt bevor. Es trafen noch weitere Tropfen ihre Brust, und jedes Mal wurde ihre Erregung größer. Die kleine Pein, der Schmerz schien ihr zu gefallen. Das beflügelte dann wiederum auch ihren Partner, und der Akt konnte vollzogen werden.
Er grinste breit. Das war sicherlich ein Bereich, der ausbaufähig wäre. Manche mussten eben zu ihrem Glück gezwungen werden. Damit kannte er sich aus.
Im Kamin legte er auch noch rasch Holzscheite nach. Natürlich machte er das sonst ganz gewiss nicht selbst. Dazu waren die Diener da. Aber diese spezielle Situation erforderte besondere Maßnahmen, die ihn eben zwangen, persönlich Hand anzulegen. Das Personal war fortgeschickt worden. Die Türen und Fenster fest verschlossen. Er duldete keine Zuschauer, die sich als Zeugen entpuppen konnten. Nur Mittäter waren gefragt. Und deren gab es einige. Da links, der alternde Lüstling auf der wonnegeilen jungen Dirne, oder dort die alte Vettel mit dem jugendlichen Bock, dem jedes Loch recht war, das ihm Befriedigung verschaffte! Die in der Luft zuckenden Füße, die wackelnde Nacktheit und weit geöffneten Schenkel!
Ihre Verkommenheit kannte keine Grenzen. Sie zelebrierten ihre Exzesse, als gäbe es kein Morgen. Und genau das machte er sich zunutze.
Tagsüber frömmelten sie. Nichts konnte dann ihre angebliche Rechtschaffenheit auf die Probe stellen. Nachts galten andere Gesetze – an die Stelle makelloser Tugendhaftigkeit traten Laster und ausschweifende Sittenlosigkeit. Er staunte über die Scheinheiligkeit ebenso wie über das schier grenzenlose Verlangen nach Vergnügen. Lag es an der allgemeinen Lage, dem Mangel und der Not, die die Menschen dazu trieben, verschwenderische Lust zu suchen? Das konnte es nur zum Teil sein, denn diesen hier ging es in der Regel so gut, dass sie keinerlei Not litten. Andere schon.
Bald wäre ihre Orgie beendet, und sie würden verschleiert und inkognito in ihr sittenstrenges Ratsherren- oder Kaufmannsleben zurückkehren. Dünkel und Doppelmoral, darin waren die Katholiken federführend! Der Priester stand schon bereit, ihnen bei der Beichte ihre Sünden zu vergeben.
Vielleicht, so dachte er, gierten sie so sehr nach Ausschweifungen, weil sie nicht wussten, wie es weitergehen sollte. Weil ihnen irgendwas sagte, dass die Not besonders groß war, dass Veränderungen anstanden. Aber warum etwas ändern, wenn strikte Gesetze einen nicht dazu zwangen? Das Verlangen war weit größer als die Scham, etwas Unrechtes zu tun.
Wie auch immer, sie würden seine Vergeltung zu spüren bekommen. Er wusste schließlich, wer sie waren. Und das galt für alle Anwesenden, die sich lustvoll um ihn herum in jeder von Gott gegebenen Form und Möglichkeit Befriedigung verschafften. Er kannte all ihre Namen, und er würde sich sein Wissen schon bald zunutze machen. Sie fraßen ihm aus der Hand. Und sie würden darum betteln. Widerlich! Aber es belustigte ihn auch, es gab ihm Genugtuung, so viel Macht zu besitzen.
Und schließlich hatte er noch eine Überraschung parat, die ihm selbst große Erregung zu versprechen schien. Eine Tür wurde geöffnet. Der Luftzug brachte Kälte und ließ die Kerzen flackern. Drei grobschlächtige Gesellen führten seine »Überraschung« herein – eine Handvoll Wesen, die verschreckt und verängstigt mit großen Augen verwundert ihre Umgebung absuchten. Ein geiles Raunen ging durch die Feiernden. Wie ausgehungerte Wölfe stürzten sie sich auf die Beute.
Er lehnte sich im Sessel zurück, in dem er sich zuvor niedergelassen hatte, und betrachtete ausgiebig, was um ihn herum passierte. Dann trank er einen kräftigen Schluck Rotwein und entschloss sich zu genießen, wie kunstvoll ihm der Mund einer Dirne reichlich Vorfreude auf seine Überraschung schenkte.
Was er vorhatte, würde die Gesellschaft von innen heraus zersetzen. Er würde sie alle gegeneinander ausspielen und der lachende Dritte sein! Er grinste. Keine Frage, sie waren bereit für den nächsten Schritt, die nächste Stufe seiner gottgewollten Vergeltung. Sie waren bereit für ein Opfer.