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Es war früher Morgen, als Venray mit der Kutsche nach Cöln aufbrach.

Zwar fuhr das Gefährt mit den Kufen auf geschlossener Schneedecke sehr viel ruhiger und gleichmäßiger als gewöhnlich mit Rädern, die jedes Schlagloch, jede noch so kleine Unebenheit auf den unbefestigten Wegen direkt übertrugen. Eine Reise wurde dadurch oftmals zur reinsten Strapaze, an deren Ende man die blauen Flecken an seinem Körper zählen konnte. Doch sie kamen nur im gemächlichen Tempo vorwärts.

Es war ein weiterer Tag ohne nennenswerte Helligkeit. Eine schmutzig graue Wolkendecke erstreckte sich über das gesamte Firmament, als hätten die Asen ein Leichentuch über dem Land ausgebereitet. Die Sonne, weder ihre Korona noch irgendein anderes Zeichen ihrer Existenz, konnte Venray hinter dem dichten Wolkenschleier ausmachen. Das trübe, dumpfe Licht warf seine schwermütigen Schatten auch auf Venrays Gemüt.

Die letzten Tage waren nicht spurlos an ihm vorübergegangen. Der Mordfall konnte sich zu einer politischen Verwerfung entwickeln. Und nun begab er, der Amtmann aus Düsseldorf, sich ins verfeindete Cöln. Es war eine amtliche Reise, die er allerdings eigenmächtig und ohne vorherige Absprache mit seinem Dienstherrn unternahm.

In der Regel war er befugt, genau das zu tun, allerdings innerhalb des Herzogtums. Dieser Fall hier war um einiges brisanter. Die Ermittlungen führten ihn ausgerechnet in die Stadt, mit der das Herzogtum Berg von alters her im Clinch lag. Wie würde der Kurfürst darauf reagieren, wenn er davon erfuhr? Würde er es billigen oder ihn tadeln? Es konnte auf beiden Seiten – in Cöln wie in Berg – erhebliche Missstimmung entstehen. Aber das musste er riskieren, sogar einen Tadel in Kauf nehmen, wenn er etwas herausfinden wollte. Das war seine Aufgabe, und es gab keinen Zweifel daran, dass Venray diese Aufgabe zu erfüllen gedachte.

Dennoch hatte er nicht die geringste Vorstellung, was ihn in Cöln erwartete. Zu anderen Regionen, Städten oder Fürstentümern gab es Kontakte. Mit der Reichsstadt führte das bergische Herzogtum jedoch kaum Gespräche, und einen direkten, persönlichen Kontakt zweier hochgestellter Beamten gab es erst gar nicht. Einige bergische Adlige unterhielten Wohnhäuser in Cöln. Aufgrund der zumeist konträren Ansichten, was den Handel betraf, herrschte zwischen den verfeindeten Städten Stillschweigen. Es war schon fraglich, ob ihn der Domküster überhaupt empfangen würde.

Ein Vorfall wie der vorliegende endete erfahrungsgemäß als Streitfall auf allerhöchster Ebene. Venray musste äußerst geschickt und feinfühlig vorgehen. Jedoch ging es bei einem Verbrechen und seiner Aufklärung selten feinfühlig zu.

Wer konnte Interesse daran haben, den Pater eines mittellosen und zudem unbedeutenden Ordens zu ermorden? Der frevelhafte Mord an einem Geistlichen konnte bei den Brüdern der Redemptoristen dafür sorgen, dass sie erheblichen Aufruhr veranstalteten, um den Mörder ausfindig zu machen. Sie konnten sich direkt an den Papst wenden und würden mit Sicherheit Gehör finden – der Mord an einem Geistlichen konnte nicht hingenommen werden –, oder sie wählten den Weg über den in Cöln residierenden Vertreter Seiner Heiligkeit, den päpstlichen Nuntius. Hier betrat Venray unsicheres Terrain, denn oftmals herrschte zwischen Rat, päpstlichem Nuntius und dem Erzbischof Zwist. Jeder verfolgte seine eigenen Interessen. An wen konnte er sich wenden? Wem konnte etwas daran liegen, den wahren Täter zu finden und nicht einen unschuldigen Schuldigen? Die Aufklärung des Verbrechens hing davon ab, wer darin verwickelt war. Fest stand für Venray eines: In dieser undurchsichtigen Gemengelage konnte er niemandem trauen.

Ihm gegenüber saß die Apothekerin. Anna-Maria Scheidt hatte ihn ersucht, ihn nach Cöln begleiten zu dürfen, um ihre Vorräte aufzufrischen. Venray vermutete, es ging dabei noch um etwas anderes, aber er stellte keine Fragen, und die Apothekerin wollte nicht gefragt werden. Seit ihrer Abfahrt schwieg sie und wich konsequent seinem Blick aus. Womit hatte er nur ihre Abweisung erregt?

Seltsam, was mochte an dieser Frau sein, dass er sich durch ihre abweisende Haltung ihm gegenüber gekränkt fühlte? Das war ja albern! Um sich Ablenkung von seinen Gedanken zu verschaffen, blickte Venray durch das Kutschenfenster nach draußen in die Schneelandschaft. Sie passierten gerade einen kleinen Wald, der sich am Ufer zwischen Mülheim und Deutz hinzog.

Die Bäume wirkten wie zerdrückt unter ihrer Schneelast. Es sah aus, als reckten unzählige Skelette ihre dürren Knochen in die Höhe. Sie sehnten sich danach, zerbrechen zu dürfen, als forderten sie den Betrachter zu einem letzten Todestanz auf. Grabesstille herrschte, wie auf einem Friedhof. Die Natur gab keinen Laut von sich, und Venray fühlte sich wie ein Verfluchter auf dem Weg in die Unterwelt. Dieses Schauerwäldchen, wie aus einem unheilvollen Märchen, war in der blühenden Jahreshälfte sicherlich ein lauschiges Plätzchen, an dem sich heimlich Liebespaare trafen.

Absurde Gedanken. Wie kam er ausgerechnet jetzt dazu, an Liebe zu denken?

Das Fensterglas schepperte leicht und riss ihn aus seiner Träumerei. Er hatte sich diesen Luxus gegönnt und Fenster einbauen lassen, um während der Fahrt hinausschauen zu können, um Kälte und Licht nicht durch Vorhänge aussperren zu müssen. Das Glas würde im Sommer wieder ausgebaut werden, viel zu empfindlich war das Material. Auf den holperigen Straßen und Wegen würde es schnell zerbrechen, aber momentan glitt die Schlittenkutsche recht sanft dahin.

Er blickte zur Apothekerin hinüber. Sie hatte noch immer kein Wort geredet. Auf dem Kutschenboden stand zwischen ihnen eine Kohleschale. Die Wärme der glühenden Kohlen verpuffte in der Kabine wie nichts. Schon von den Knien aufwärts spürte Venray fast keine Wärme mehr.

Draußen weckte eine seltsame hügelartige Verwerfung im Schnee seine Aufmerksamkeit. Hatte dort jemand gegraben? Sie fuhren zu schnell, um genau hinschauen zu können. Eben wollte er den Kutscher bitten zu halten, da verließen sie den Wald, und vor seinen Augen stand etwas, das ihn augenblicklich in seinen Bann zog. Vergessen war das Loch im Schnee. Denn vor ihm lag die gottesfürchtige Reichsstadt mit ihren zwölf Pforten wie das heilige Jerusalem. Das Panorama war so gewaltig und imposant, als müssten bei seinem Anblick automatisch Posaunen und Trompeten erschallen, die einst die Mauern Jerusalems zum Einsturz brachten.

Die Spitzen der Kirchen mit ihren Kreuzen darauf waren so zahlreich, dass sich Venray erst gar nicht die Mühe machte, sie zu zählen. Zwischen all den Türmen entließen die Kamine der Wohnhäuser Rauchsäulen, die sich wie Hunderte dick und dicker werdende Würmer in den grauen Himmel schlängelten. Ob weiter oben der Herr saß – der große Fischer –, der die Würmer aus dem Boden zog und damit auf Menschenfang ging?

Schon glaubte er, nichts könne diesen Anblick übertrumpfen, da wurde er eines Besseren belehrt. Mast an Mast sammelte sich eine Armada aus verschiedensten Flussschiffen vor der Stadtmauer, die von dem Segel-und-Masten-Wald teilweise vollständig verdeckt wurde. Die Schifferstadt war wie eine eigene Stadt am Rheinufer, eingeklemmt von Eis und Schnee. Auch hier türmten sich Eisschollen zu einem Wall, aber längst nicht so hoch wie in Rheinmülheim.

Es lagen hier mehr Schiffe vertäut, als Venray in manchem Seehafen gesehen hatte. Wie war das nur zustande gekommen? Sie mussten sich hier gesammelt haben, bevor der Rhein gefroren war, und das war immerhin schon Ende November gewesen. An manchen Schiffen waren noch nicht einmal die Segel samt Takelage eingeholt worden. Steif gefroren hingen sie im Wind.

Die Kutsche blieb stehen, und Venray hielt nichts mehr auf seinem Sitzplatz. Eilig stieg er aus.

Wie in Mülheim fehlte auf dieser Seite des Rheins ein Befestigungsbollwerk. Die Kutsche stand auf der Hauptstraße von Deutz, der Freiheit, direkt am Ufer, wo sich sonst eine Fährbrücke befand. Der Pächter der Fährbrücke, der zudem einen Holzhandel betrieb, war als einer der wohlhabendsten Bürger von Cöln bekannt.

Am gegenüberliegenden Ufer sah Venray auch etliche Kräne. Und zu seiner Verwunderung erstreckte sich die Stadtmauer nicht über die gesamte Uferlänge. An einigen Stellen bildeten Häuser die Verlängerung der Mauer. Über alldem erhob sich der klobige Torso des unvollendeten Doms in den grauen Himmel.

Ein breiter Menschenstrom spazierte quer über den Rhein. An einer Stelle teilte sich die Menge und strebte auf zwei unterschiedliche Stadttore zu. Man flanierte und amüsierte sich auf dem zugefrorenen Fluss. Kinder zogen Schlitten, Händler boten Getränke an, einige hatten Kufen unter ihre Stiefel geschnallt, andere ließen sich in Holzfässern sitzend über das Eis schieben. Sogar Fuhrwerke überquerten den Rhein. Auf einem bunten Volksfest konnte die Stimmung nicht ausgelassener sein. Die vielen Stimmen klangen weithin über das Eis.

»Was ist das?«, erkundigte sich Venray mit Verweis auf den Menschenstrom. »Eine Art Karnevalsbrauch?«

»Nicht dass ich wüsste«, erwiderte Anna-Maria unschlüssig.

»Der große Umzug am Rosenmontag ist erst in zwei Wochen«, mischte sich Ersterer ein, der mit einem seiner Knechte auf dem Kutschbock saß und bereitwillig den Fahrdienst übernommen hatte.

In Mülheim hatte sich niemand aufs Eis gewagt, obwohl die seit mehreren Wochen tiefen Minustemperaturen keinen Anlass boten, der Standhaftigkeit des Eises zu misstrauen. Von Düsseldorf kannte er dieses Verhalten ebenfalls nicht, aber in seiner Heimat, den Niederlanden, war es in allen Orten Brauch, im Winter auf zugefrorenen Flüssen oder Seen zu flanieren. Ihm selbst war das nicht geheuer.

»Soll ich Euch nicht doch hinüberfahren?«, fragte Ersterer.

»Nein, nein«, erwiderte Venray, »wir gehen zu Fuß. Wartet wie abgesprochen in diesem Deutzer Gasthof auf uns.«

»Ich werde nicht lange brauchen«, sagte Anna-Maria. »Ich gehe direkt zu meiner Kräuterhändlerin und komme dann zurück.«

Venray und Anna-Maria verabschiedeten sich vom Wirt und traten auf den Rhein. Sie hielten sich ein wenig abseits vom großen Menschenstrom und waren noch nicht weit gekommen, als plötzlich etwas schier Unglaubliches vor sich ging. Zuerst bemerkte Venray eine kleine Veränderung der allgemeinen Atmosphäre. Es war erst früher Morgen, aufgrund der Wolkendecke herrschte durchgehend dämmriges Tageslicht. Es war beständig zu dunkel gewesen. Seit Wochen hatte niemand mehr die Sonne gesehen.

Venray merkte es nun an den Augen. Es wurde ganz allmählich heller. Und dann ging es urplötzlich sehr schnell. Die Helligkeit nahm zu, und schließlich brach die Wolkendecke im Osten über Deutz ganz auf, und das Sonnenlicht schoss wie glühende Blitze auf die Erde nieder. Es war so grell, dass es in den Augen schmerzte. Ein Aufschrei ging durch die Menschenmasse.

Die Sonnenstrahlen fielen direkt auf die Fassaden der Reichsstadt und tauchten sie für einen kurzen Moment in goldenes Licht, dann schlossen sich die Wolken wieder, und es erschien einem dunkler als vorher. Wieder war die Masse in Aufruhr. Venray stöhnte. Er begriff, was ihm seit Wochen fehlte – ein wenig Sonnenlicht im Gesicht. Auch die Apothekerin stieß einen Laut des Bedauerns aus. Der größte Teil der Menschenmenge jedoch jubelte und johlte, sie priesen Gott und sandten Gebete wie Dankessprüche in den Himmel.

»Es wird bestimmt einen findigen Priester geben, der das als Wunder Gottes verkaufen wird«, meinte Venray.

»Das ist es ja auch«, erwiderte Anna-Maria. »Ein Wunder, nicht von Gott, sondern von der Natur.«

Venray war sprachlos. »Vielleicht behaltet Ihr derartige Sprüche in einer gläubigen Stadt wie Cöln besser für Euch«, riet er ihr dann.

»Ich kann gut auf mich selber aufpassen«, antwortete sie kurz angebunden. »Ich muss nun in diese Richtung!« Anna-Maria zeigte auf ein großes Torhaus weiter im Süden und ging, ohne sich zu verabschieden.

Was hatte er jetzt wieder falsch gemacht? Er hatte ihr doch nur raten wollen, mit Äußerungen, die als Blasphemie angesehen werden konnten, vorsichtig zu sein. Venray blickte ihr hinterher, hatte sie jedoch im Gewühl schnell aus den Augen verloren.

»He du, Bub«, rief er einen vorbeilaufenden Jungen an, »sag mir, wie heißt das Tor dort?«

»Markmannsgasse«, erwiderte der Junge und blickte Venray dabei an, als wäre der nicht ganz richtig im Kopf. Die Stadttore von Cöln, so etwas wusste man doch!

Venray versuchte ein letztes Mal, Anna-Maria ausfindig zu machen, aber es gelang ihm nicht mehr. Dem Jungen warf er eine Münze zu, dann lenkte er seine Schritte auf das besagte Tor zu.

Die unzähligen Berichte über die freie Reichsstadt am Rhein, die er in den letzten Jahren immer wieder in Zeitungen von Reiseschriftstellern gelesen hatte, warfen ihren Schatten voraus. Selten bekam Cöln ein gutes Attest. Wenn der Verfasser ein Protestant war, sagte man der Stadt sogar einen ausgesprochen schlechten Ruf nach. Es war an der Zeit, selbst herauszufinden, was an diesen Berichten wahr war.

Einen Stadtplan führte er nicht mit sich. In seiner Amtsstube hing der Plan des Cölner Artilleriehauptmanns Reinhardt aus dem Jahr 1752, also gut dreißig Jahre alt. Weder hatte er den Plan im Kopf, noch hatte er ihn sich jemals genauer angeschaut. Bisher hatte es auch keinen Anlass dafür gegeben. Einen Vorwurf brauchte er sich deshalb nicht zu machen, überlegte Venray, tat es aber dennoch. Er war gern gut vorbereitet.

Das Markmannsgassentor war auffällig klein und baufällig. Es herrschte dichtes Gedränge. Venray scheute sich, das Tor zu durchschreiten. Einerseits aufgrund der belastenden Vorberichte, die die ganze Stadt mit einem nebulösen Dunst umgaben, hinzu kamen seine mangelnde Ortskenntnis sowie die Tatsache, dass er an dieser Stelle des Rheinufers einen besonders guten Blick auf die am Ufer vertäuten Schiffe werfen konnte. Er entschloss sich also, am Rheinufer entlangzugehen, bis er auf Höhe des Doms angelangt war.

Mit Faszination, Erstaunen und dunkler Vorahnung bestaunte er die Schiffe, Kähne, Boote und Flöße unterschiedlichster Größe und Form. Von vielen Schiffen stiegen Rauchsäulen auf. Anscheinend lebten die Schiffer darauf. Am Ufer und in der Schifferstadt herrschte ein lebhaftes Treiben, eingerahmt von einer gigantischen Ansammlung von Eis und Schnee. Es waren längst nicht so viele Schollen und Eisbrocken wie in Mülheim, aber auch die hier lagernde Menge verhieß gar nichts Gutes. Sobald das Eis aufbrechen würde, drohten die Schiffe – voneinander und von den Schollen – zerquetscht zu werden.

Es gab palisadenartige Kaianlagen mit Leitern, die zum Ufer hinabführten. Lange Holzstege ragten weit in den zugefrorenen Rhein. Sie sollten das Eis brechen und wurden deshalb auch »Eisbrech« genannt. Eine geradezu lächerliche Schutzmaßnahme, selbst in Anbetracht einer normalen Flut. Am Ufer selbst türmten und stapelten sich allerhand Körbe, Fässer, Krüge, Kisten und anderes Zeug – zum größten Teil unkenntlich unter den Schneemassen begraben. Dazwischen lugten Handkarren, Kraxen und Leiterwagen hervor. Es musste sich um nicht verräumte Ware handeln. Wieso es versäumt worden war, die Ware in winterfesten Lagerräumen zu verstauen, begriff Venray nicht.

Der Uferweg an sich war breit genug für Wagen und Karren, auch weil hier die Treidelpferde entlanggeführt wurden, um die Flussschiffe zu ziehen. Jedoch war der Weg momentan auf einen schmalen Fußweg zusammengeschrumpft. Auf diesem schmalen Pfad drängte sich zahlloses Volk. Die Gesprächsfetzen, die Venray auffing, drehten sich allesamt um die bevorstehende Flut.

Das Mauerwerk der Cölner Stadtmauer war hier in einem besonders trostlosen Zustand. Der Putz fiel ab, der Mörtel bröckelte aus den Fugen. Das Bollwerk würde Angreifern kaum standhalten; ob es gegen die Wassermassen schützen würde, konnte Venray nicht vorhersagen. An die Mauer waren Häuser und roh gezimmerte Verschläge angebaut worden. Überall hausten Menschen. Was würde mit ihnen passieren, wenn das Schmelzwasser kam?

Mitten auf dem von schmutzigen Schuhsohlen braun getretenen Schneepfad zankten sich zwei Frauen. Ihre Kleider waren eher Lumpen als Kleidung, und ihr Alter konnte Venray nur schwer einschätzen. Sie waren so sehr vermummt, dass man ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Nur an ihrer Art, sich zu bewegen und zu gehen, meinte Venray zu erkennen, dass sie etwas älter sein mussten. Als er näher kam, erkannte er, worum sie sich stritten. Die Frau mit dem Rücken zu ihm verstellte den Blick auf drei Holzscheite, an denen sie beide zogen. Der anderen gelang es, eines der Scheite ganz zu fassen, die zwei anderen Hölzer fielen zu Boden. Als die Frau mit dem Rücken zu ihm wieder nach dem Scheit griff, hob die andere es in die Höhe, um das Holz auf den Schädel ihrer Widersacherin zu jagen. Venray griff ein. Doch trotz mehrmaligen Nachfragens gelang es ihm nicht, eindeutig zu klären, wem das Holz gehörte oder ob es einer der beiden Frauen gestohlen worden war. Schmuggel, Diebstahl und Hehlerei waren sicherlich aus der Not geborene Verbrechen, die hier zum Alltag gehörten. Venray zog seinen Säbel. Da es nicht das richtige Werkzeug war, spaltete er mühevoll jedes Scheit in zwei ungefähr gleiche Teile und gab jeder Frau drei Stücke. Die erste Frau lächelte ihn an und ging dankbar ihrer Wege, die zweite Frau beschimpfte ihn und belegte ihn mit einem ernst gemeinten Fluch. Venray konnte kaum glauben, dass jemand wegen drei Holzscheiten derart rachsüchtig sein konnte. Er machte, dass er weiterkam.

Durch das Tor an der Dranckgasse betrat er schließlich die Stadt. Obwohl die Straße immer geradeaus verlief, hatte er im Wirrwarr zweimal nach dem Weg fragen müssen. Nun folgte er der Gasse, die an der nördlichen Seite unterhalb des Doms lag, bis zu seinem Ziel: dem Cölner Hof, dem erzbischöflichen Palais. Er erhoffte sich, dort Auskunft zu erhalten, wo er den Domküster finden könnte. Freilich lief Venray nicht Gefahr, den Erzbischof persönlich anzutreffen und zu der Angelegenheit befragen zu können. Erzbischof Maximilian Friedrich selbst, der gleichzeitig Kurfürst von Cöln war, residierte nämlich nicht etwa in der Reichsstadt, sondern in seinem Schloss in Poppelsdorf bei Bonn.

Kaum stand Venray vor dem Eingangstor zum Palais, wurde ihm die Absurdität der sonderbaren Situation bewusst. Er stand im Begriff, so unvorbereitet wie unangekündigt ans erzbischöfliche Palais zu klopfen! Genauso hätte er in Rom an der Pforte des Vatikans um Eintritt bitten können für ein Gespräch mit dem Papst.

Eben wollte er sich überwinden und an das Tor klopfen, da wurde es aufgerissen, und ein Mann kam heraus, der an ihm vorbeieilen wollte. Der Geistliche trug liturgische Kleidung und war vermutlich auf dem Weg zur Messe im Dom, in dessen Schatten das Bischofspalais lag. Der Priester schaute ihn kurz an, und etwas an Venrays Erscheinung ließ ihn innehalten. Es war doch offensichtlich, dass es sich bei Venray nicht um einen der Dienstboten oder Bettler handeln konnte, die vor dem Eingangsportal herumlungerten oder den für das Personal und die niederen Ränge gedachten Dienstboteneingang benutzten.

»Kann ich Euch helfen?«, fragte der Geistliche.

»Das könnt Ihr mit Sicherheit«, erwiderte Venray höflich. »Ich würde gerne in einer äußert dringenden Angelegenheit mit dem Domküster sprechen.«

»Momentan ist dafür sehr wenig Zeit. Im Dom findet eine Messe gegen die Flut statt.«

»Darf ich fragen, mit wem ich spreche?«, erkundigte sich Venray.

»Ich bin der Sekretär des Domküsters.«

Der Küster des Doms hatte einen Sekretär? Die katholischen Ämter waren ihm fremd. Da Venray protestantisch erzogen worden war, kannte er sich mit katholischen Bräuchen nur unzureichend aus. Er war sich jedoch ziemlich sicher, dass bei den protestantischen Glaubensbrüdern kein Küster, sei er noch so hochgestellt, einen Sekretär hatte. Darüber hinaus nannte der Sekretär seinen Namen nicht.

»Wann kann ich den Domküster sprechen?«

»Im Moment gar nicht. Wen darf ich denn melden?«

»Amtmann Venray aus Mülheim. Ich ermittle in Sachen eines Mordes an einem Pater.«

Der Geistliche runzelte die Stirn. »Und deshalb kommt Ihr nach Cöln?«

»Das letzte Gespräch des Ermordeten fand hier in Cöln mit dem Domküster statt.«

Der Geistliche schüttelte den Kopf, dann sagte er: »Wir müssen eine Messe feiern, um Gottes Gnade zu erbitten.«

»Ihr lasst die Menschen beten, um die jährlich einsetzende Schmelzwasserflut zu verhindern?«

»Das liegt ganz allein in der Allmacht unseres Herrn Jesu Christi.«

Mit dieser klerikalen Anschauung vereinfachte der größte Teil der Geistlichen den Lauf der Welt. Ihn traf diese Uneinsichtigkeit und verbohrte Gläubigkeit jedes Mal aufs Neue wie ein Schlag in die Magengrube. »Wie viele Kirchen gibt es in der Stadt?«, lenkte er das Gespräch zum Schein in eine andere Richtung.

»Es mögen um die zweihundertsechzig sein«, sagte der Gottesmann stolz, gleichzeitig schien er nicht zu verstehen, wieso Venray ihm die Frage stellte. Er taxierte ihn mit einem abschätzenden Blick.

»Das sind sehr viele«, meinte Venray. »Ob es in der heiligen Stadt ähnlich viele Gotteshäuser gibt?«

Prompt antwortete der Sekretär des Domküsters herablassend: »Das heilige Cöln braucht sich vor keinem Vergleich zu scheuen.«

Dieses selbstgefällige Eigenlob provozierte Venray noch mehr. »Selbst eintausend Kirchen im heiligen Jerusalem«, erwiderte er erbost, »mit noch so vielen Menschen, die Gottes Glorie preisen, könnten die Flut nicht aufhalten.«

»Das ist Gotteslästerung!«

Venray war immer wieder fasziniert davon, wie rasch sich Geistliche jeglichem rationalen Argument entwanden und diesen Trumpf zogen, das Ass im Ärmel, das jede weitere Diskussion unterband und zum Stillschweigen zwang. Entweder war es die Allmacht Gottes oder die angebliche Beleidigung des höchsten Wesens, mit der jede andere Meinung vernichtet wurde. Eben hatte er die Apothekerin noch gewarnt, nun war er selbst in die Situation geraten, der Blasphemie beschuldigt zu werden. War er im Begriff, sich um Kopf und Kragen zu reden?

»Übt Euch in Vorsicht«, erwiderte Venray, dem nur die Flucht nach vorn blieb. »Wollt Ihr den Vertreter Seiner Durchlaucht beschuldigen, beschuldigt Ihr am Ende den Kurfürsten selbst. Bringt mich zu Eurem Vorgesetzen oder am besten gleich zum Erzbischof, und wir klären die Angelegenheit. Denn ich bin nur hier, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun.«

»Trollt Euch nach Hause, Ihr Mülheimer Hunde«, giftete ihn der Sekretär an, nachdem er ihn lange fassungslos angestarrt hatte.

Dieser heftige Ausbruch alarmierte Venray. Auf eine unverhohlene Drohung, Venray als Gotteslästerer darzustellen, folgte eine derbe Beleidigung. Er war noch keine zwei Stunden in Cöln, man hatte ihn bereits verflucht, und nun wurde er von einem Kirchenmann beschimpft und beleidigt. Es konnte kaum schlimmer kommen.

»So von Hund zu Hund«, konterte er kalt, »ich werde Seiner Durchlaucht Eure Beleidigung übermitteln.«

Endlich kam Bewegung in die herablassende Mimik des Geistlichen. Er schien hin- und hergerissen. »Was ist Euer Begehr?«, fragte er endlich. An einem Eklat schien ihm also doch nicht gelegen.

»Wie ich schon sagte«, antwortete Venray, »es geht mir nur um eine rein sachliche Nachfrage zu einer kriminalpoliceylichen Ermittlung. Ein katholischer Mönch wurde ermordet. Kaltblütig ermordet, denn eine solche Tat erfordert ein gewisses Maß an ›kaltem‹ Blut. Der Tote wurde im Verwaltungsbezirk Mülheim gefunden. Ob der Mord wirklich dort oder an einem anderen Ort erfolgte, lässt sich nicht mehr zurückverfolgen. Ich bin von Amts wegen beauftragt, den Täter ausfindig zu machen. Und ich dachte, auch der Diözese sollte daran gelegen sein, dass dieser Fall zur Aufklärung käme. Zumal eines der letzten bekannten Gespräche des Ermordeten, wie gesagt, hier in Cöln mit dem Domküster geführt wurde. Ihr habt Euch noch nicht einmal erkundigt, um welchen Mönch es sich handelt. Auch wenn es Euch offensichtlich an Respekt mangelt, wird es ja wohl gestattet sein, diese Fragen zu stellen.«

Der Geistliche ließ sich Zeit mit seiner Antwort. »Wie lautet der Name des Mönchs?«

»Das werde ich Eurem Dienstherrn offenbaren.«

»Kommt morgen wieder«, sagte der Sekretär.

Das war alles. Kommt morgen wieder. Der Geistliche ließ Venray einfach stehen. Er blickte ihm hinterher, wie er über die Gasse eilte und im Dom verschwand.

Venray schaute sich die Straße genauer an, während er darüber nachdachte, wo er denn heute Nacht, entgegen seinem ursprünglichen Plan, nicht länger als einen Tag in Cöln zu weilen, übernachten sollte. Die Häuser der Dranckgasse waren von höchst unterschiedlicher Bauart. Sicherlich war auf dieser Gasse zu früheren Zeiten das Vieh getränkt worden. Dass das für die Treidelpferde, die die nahe gelegenen Aaken und Oberländer zogen, noch heute galt, hielt Venray für wahrscheinlich. Momentan ersichtlich war es nicht, da sich wie überall klafterhoch schmutziger Schnee auftürmte. Neben einigen anderen offensichtlich sakralen Bauten zeigte sich der Cölner Hof, das Bischofspalais, vor dem er stand, ein einstöckiges Gebäude im klassischen Stil seiner Zeit errichtet, in tadellosem Zustand. Geradezu makellos. Ganz ähnlich wie einige viel größere Prachtbauten auf der Straße, die vermutlich wohlhabenden Patrizierfamilien gehörten. Diese Palais glänzten und strotzten geradezu vor Wohlstand und Reichtum.

Dazwischen standen besonders baufällige Häuser, die diese Bezeichnung aufgrund ihrer Unansehnlichkeit kaum noch verdienten. Die Ungleichheit zwischen alarmierender Verwahrlosung und schier grenzenloser Pracht, verbunden mit den bisherigen Erlebnissen mit Cölner Bürgern, ließ Venray zu dem Schluss kommen, dass es um die Stadt wahrlich nicht gut stand.

Die Reichsstadt war wie ein schlafender Riese, der von Alpträumen geplagt um sich schlug. Eingelullt von strenggläubigen Eiferern und selbstsüchtigen Oberen, wartete der Riese, eingebettet im ewigen Winterschlaf, darauf, dass er erweckt wurde. Diese Erweckung, so dachte Venray weiter, würde mit unerbittlicher Härte und Grausamkeit zuschlagen, sobald die Schmelze einsetzte.