7
Der Gerichtsdiener eilte Anna-Maria voraus die Buchheimer Straße hinab. Sie hatte Mühe, ihm zu folgen und sich dabei Schal und Mantel zu richten. Der Mann lief so schnell, dass er immer wieder auf vereisten Stellen ins Rutschen kam. Als sie unten an der Mülheimer Freiheit ankamen, erwartete sie dort eine vierspännige Kutsche. Wer schickte ihr eine Kutsche?
»Ich habe kein Geld, eine Mietkutsche zu bezahlen, sagt das Eurem Auftraggeber«, protestierte sie an den Gerichtsdiener gewandt.
Die Fahrgasttür wurde aufgestoßen. Als Anna-Maria sah, wer sie gerufen hatte und ihr nun die Tür öffnete, vergaß sie augenblicklich ihr Ansinnen, und Zorn flammte in ihr auf.
»Bertoldi, Ihr? Was um alles in der Welt wollt Ihr von mir?«, fauchte sie ihn hart an. »Habt Ihr noch nicht genug angerichtet?«
Der Hofkammerrat nahm höflich seinen Dreispitz ab und bat sie herein. Sein Gesicht war hochrot angelaufen. Er wirkte aufgebracht. »Ihr werdet benötigt. Eilt Euch«, stammelte er. Dieses Verhalten passte nicht zu ihm. Es sah ihm nicht ähnlich, eine solche Verunsicherung an den Tag zu legen.
»Was? Hilft das Mittel nicht gegen Eure Krätze? Recht so!«
»Seid doch bitte still«, rief er.
Aber Anna-Maria ließ sich nicht bremsen. »Wenn Ihr noch ein anderes Mittel wünscht, bedenkt, dass die Preise gewaltig gestiegen sind.«
»Nein, nein, das ist es nicht, Ihr müsst mitkommen. Seid doch bitte nicht so laut«, versuchte er sie zu beschwichtigen.
»Einen Teufel werde ich tun. Ihr habt es nicht verdient, dass man Euch ein Mittel verabreicht, das auch hilft. Oder Euch in anderer Weise behilflich ist. Gott wird kein Mitleid mit Euch haben und Euch bestrafen!«
Das saß. Eben noch puterrot im Gesicht, wirkte der Rat nun leichenblass. Seltsam, mit wenigen Mitteln war diesen Herrschaften beizukommen, aber wenn man sie vor Gott verfluchte, machte das immer noch einen gewissen Eindruck. Anna-Maria kam aus einem strenggläubigen katholischen Haus und kannte sich mit solchen Verwünschungen gut aus.
»Es geht nicht um Euch! Oder um mich. Es wurde eine Leiche gefunden. Ihr müsst sie untersuchen. Schnell!«
»Nein, damit habe ich nichts mehr zu schaffen. Holt Euch den Quacksalber von Stadtphysikus – wie heißt er noch gleich? Mir entfällt immer wieder sein werter Name.«
»Das geht nicht«, erwiderte Bertoldi. »Ihr seid die einzige Person, die hier in Mülheim Kenntnis in solchen Fällen hat. Darüber hinaus hat der Amtmann ausdrücklich darauf bestanden, dass Ihr die medicinalpoliceyliche Tätigkeit ausüben sollt. Und der Bürgermeister will keinen weiteren Zwist mit ihm. Wenn er aus Cöln zurückkommt, will er ihn nicht verärgert sehen. Es ist also eher Pflicht als Wunsch und Wille, Euch zu holen!«
»Oh, wisst Ihr was«, schrie Anna-Maria vollkommen außer sich zurück. Was bildeten sich diese Leute nur ein? Alles sollte nach ihrer Nase laufen. »Soll er doch verärgert sein, dieser feine Freiherr van Venray!«
»Frau Scheidt«, versuchte es Bertoldi noch einmal, wurde aber augenblicklich von ihr unterbrochen.
»Parisi.«
»Gut, Frau Parisi, kommt mit, und Ihr werdet mich verstehen. Vertraut mir.«
»Euch soll ich vertrauen«, höhnte sie.
»In diesem einen Punkt«, gab sich Bertoldi geständig.
Eigenartigerweise klang das in Anna-Marias Ohren wie die ehrlichste Antwort, die er ihr je gegeben hatte und geben würde. Was hatte er gesagt, »solche Fälle«? Was meinte er damit? Sie gab sich einen Ruck und bestieg die Kutsche. Kaum hatte sie in der Kabine gegenüber von Bertoldi Platz genommen, da setzte sich der Vierspänner auch schon in Bewegung.
»Meine Arbeitserlaubnis«, eröffnete Anna-Maria.
»Was soll damit sein?«, fragte der Rat.
Sie nahm allen Mut zusammen. »Ihr gebt mir meine Arbeitserlaubnis zurück, dann erzähle ich niemandem von Eurem … wie wollt Ihr es nennen, Juckreiz?«
Bertoldi blieb ganz ruhig. »Das könnt Ihr nicht machen.«
Anna-Maria war empört. Mehr sagte er dazu nicht? Aber bei näherem Überlegen musste sie sich eingestehen, dass er recht hatte. Würde sie nämlich den Rat öffentlich bloßstellen und Krankengeheimnisse verraten, wäre ihre Glaubwürdigkeit auch bei den Kunden hinfort. Wer würde ihr noch etwas anvertrauen? Sie fühlte sich ohnmächtig. Ausgeliefert und machtlos.
In der Mitte der Fahrgastkabine flackerte eine Kerze in einer kleinen Laterne. Im warmen Lichtschein sah Bertoldis aufgedunsenes Gesicht unter der hoffärtigen Perücke beinahe freundlich aus. Er blickte sie aus großen Augen an. Wie konnte ein derart liebenswert aussehender Mensch nur derartig intrigant sein? Aber Anna-Maria hatte schon oft erlebt, dass das Äußere nur Schein war. Sie wandte sich ab. Wenn sie ihn noch länger beobachtete, würde sie ihm an die Gurgel springen!
Schweigend verließen sie die Stadt in südlicher Richtung und fuhren exakt den Weg, den Anna-Maria vor wenigen Tagen mit Venray in dessen Kutsche nach Cöln genommen hatte. Nach ungefähr zwanzig Minuten hielt die Kutsche wieder an. Anna-Maria spähte durch die Vorhänge nach draußen. In einiger Entfernung, ungefähr auf halber Strecke zum Rheinufer, so schätzte sie, sah sie eine Menschenansammlung, die sich um etwas gruppierte, das vor ihnen auf dem Boden liegen musste.
Sie verließ die Kutsche und bahnte sich einen Weg durch den hohen Schnee. Bertoldi folgte ihr.
Als sie näher kam, erkannte sie die Menschen. Es waren hauptsächlich Arbeiter von Andreae, die zum Deichbau abgestellt waren. Sie hatten ihre Werkzeuge dabei, Spitzhacken, Spaten und Äxte. Finster blickten sie drein. Anna-Maria kannte einige der Männer, da sie ihnen und ihren Familien gelegentlich mit Arzneimitteln aushalf. Die Menge teilte sich vor ihr. Unweigerlich musste sie an ein biblisches Bild denken.
Kaum war der letzte Arbeiter beiseitegetreten, offenbarte sich ihr ein Schreckensbild, auf das sie nicht vorbereitet war. Anna-Maria schnappte entsetzt nach Luft. Vor ihr lag in einer nicht allzu tiefen Grube die Leiche eines Kindes. Der Kleidung nach musste es ein Junge aus ärmlichen Verhältnissen sein. Der Größe des Körpers nach zu urteilen, war er ungefähr zehn Jahre alt. Genauer ließ sich das erst bei näherer Untersuchung sagen, denn dem kleinen Körper fehlte der Kopf.
Anna-Maria holte tief Luft. Kaum konnte sie sich aufrecht halten. Kleidung, Statur, Geschlecht – es ließ sich nicht leugnen. Ihre Gefühle wirbelten urplötzlich durcheinander. Sie musste jetzt stark sein, sagte sie sich. Sehr stark. Sie hatte ihn gefunden. Aber warum war er weggelaufen?
Was Anna-Maria momentan fühlte, würde sie entweder in die Ohnmacht treiben, oder aber sie riss sich zusammen und tat ihr Bestes, um diesen elendig feigen Kindermörder zu überführen. Sie schickte sich an, in die Grube hinabzusteigen. Dabei merkte sie gar nicht, dass sie bitter zu weinen begann. Die Arbeiter blickten sie grimmig an, fast so, als wäre sie für den Tod des Kindes verantwortlich. Bis sie begriff, dass die Männer sich wahrscheinlich nur um ihre eigenen Kinder sorgten.
In der Grube machte sie sich daran, den Ort des Verbrechens in Augenschein zu nehmen. Es bräuchte dereinst einen speziellen Begriff für den Ort, an dem ein Verbrechen entdeckt wurde, ging es ihr durch den Kopf. Auch konnte es wohl einen Unterschied geben zwischen der Stelle, an der das Verbrechen verübt wurde, und der, an der das Opfer aufgefunden wurde. Anna-Maria war viel zu verwirrt und bewegt, um diesen Gedanken weiterzuverfolgen. Spontan fiel ihr kein besserer Begriff als »Ort der Tat« ein.
Sie musste für Ordnung und Ruhe sorgen. Die vielen neugierigen Augen waren für die anstehende Untersuchung nicht hilfreich. Sie hatte einen Einfall. Sie bekreuzigte sich, um die sie angaffenden Augen zu besänftigen, und wies die Arbeiter an, mehr Abstand einzunehmen. Die Männer gehorchten ihr, ohne zu murren. Beim Zurückweichen sah sie sofort, dass die Fußabdrücke der Umstehenden jede andere Spur vernichtet haben mussten.
Anna-Maria gab sich sachlich, doch Entsetzen und Kummer wollten nicht aufhören. Nun hatte sie Gewissheit: Der Junge war tot! Und sie war zu spät gekommen. Eine Stimme dröhnte in ihrem Kopf, die dies beständig wiederholte. Wie sollte sie das durchstehen? Ihr Verstand begann zu irrlichtern, und sie rief sich zur Vernunft.
»Hat es gestern Nacht geschneit?«, fragte sie unter größter Kraftanstrengung in die Runde, ohne jemand Bestimmten anzuschauen. Da niemand antwortete, schaute sie auf und blickte einen der Arbeiter direkt an.
»Was ist, hat es geschneit?«, wiederholte sie ihre Frage.
Der Mann schüttelte verneinend den Kopf.
»Gut«, sagte sie, »ich möchte, dass ihr euch alle umdreht und jeder in seine Richtung ausschwärmt. Sucht nach Fußspuren, die nicht von einem von euch stammen und älter sein müssen. Ich bitte euch, geht vorsichtig vor und zertrampelt keine anderen Abdrücke. Der Schnee bietet uns die einmalige Möglichkeit, die Spur des Täters eventuell zurückzuverfolgen.«
Da die Arbeiter gelegentlich auch Jagd auf kleine Wildtiere machten, um den Speiseplan ihrer Familien aufzubessern, verstanden sie, was Anna-Maria beabsichtigte. Bertoldi begriff jedoch nichts.
»Wieso befehlt Ihr den Männern, wegzugehen?«, fragte er brüskiert. Er verhehlte nicht, wie sehr es ihn störte, dass eine Frau einem Mann Befehle erteilte.
»Da es nicht geschneit hat, besteht die Möglichkeit, dass wir entdecken können, woher die, die die Leiche hier abgelegt haben, gekommen sind und wohin sie gegangen sind«, erklärte Anna-Maria, die sich wieder ein bisschen gefangen hatte.
»Wen meint Ihr mit ›sie‹?«
»Ich meine den oder die Mörder, falls es mehrere waren.«
»Wieso ist das wichtig?«, fragte Bertoldi.
»Bitte, Herr Hofkammerrat, ich versuche nachzudenken«, fuhr sie ihn harsch an. »Könntet Ihr so freundlich sein und mich nicht stören, wenn Ihr schon nicht versteht, worum es geht! Am besten, Ihr setzt Euch in Eure Kutsche und belästigt Euren Kutscher mit Eurem Geschwätz!«
Bertoldi blickte reichlich verdattert drein, doch er entfernte sich nicht. Anna-Maria entschloss sich, ihn zu ignorieren.
Die Grube war nicht sonderlich tief. Man hatte nicht bis zum Erdreich gegraben, sondern nur – vermutlich hastig – ein tiefes Loch in die Schneedecke gebuddelt. Aber wieso war die Grube mit der Leiche darin nicht wieder zugeworfen worden? Dann wäre sie wohl erst im Frühjahr entdeckt worden. Oder war es Absicht, damit die Wölfe den Körper fanden? Ähnlich wie bei Pater Christoph. Doch weder fanden sich diesmal Wolfsspuren im Umfeld noch Bisse der Tiere am Körper.
Dem Leichnam fehlten die Schuhe. Die nackten Füße hatten wie die Hände eine bläulich blasse Färbung angenommen. Anna-Maria hatte eine Eingebung. Sie blickte sich um, nach Osten, wo die Strunde mit ihren Mühlen verlief, bis nach Deutz im Süden. Der Täter musste unterwegs von einem zum anderen Ort gewesen sein und hatte sich auf dem Weg des Körpers entledigt. Nur, woher war er gekommen? War es ein Mörder oder mehrere? Wo wollte er hin? Wo war der Kopf? Und – was hatte es überhaupt damit auf sich, war es dem Täter einzig um den Kopf des Kindes gegangen? Der Körper dagegen war unwichtig und daher … überflüssig. Was für eine grausige Überlegung!
Bertoldi räusperte sich.
»Was ist?«, herrschte Anna-Maria ihn an.
»Wo ist der Kopf?«, erkundigte er sich verzweifelt und schlug das Kreuz.
»Nicht hier.«
Er interpretierte ihre Einsilbigkeit als Herzlosigkeit und schnappte entsetzt nach Luft. »Himmelherrgott, unternehmt doch etwas. Das ist ja entsetzlich!«
Anna-Maria antwortete nicht darauf.
»Was soll das für einen Sinn haben?«, fragte Bertoldi.
»Es ist ein Verbrechen«, erklärte Anna-Maria. »Es muss keinen Sinn ergeben.« Während sie sich neben die Leiche kniete, fügte sie leise hinzu: »Außer für den Verbrecher.«
Sie hatte mit ihren eigenen Gefühlen zu kämpfen, als sie die Wunde untersuchte. Der Kopf musste mit einem kräftigen Schlag abgetrennt worden sein. Welche Waffe dafür nötig war, wusste sie nicht. Ein großes Schwert. Oder eine Axt. Das würde der Amtmann besser beurteilen können.
Um die Wunde herum befand sich nur wenig Blut im Schnee. Demzufolge war die Enthauptung nicht an dieser Stelle, sondern an einem ganz anderen Ort erfolgt. Anna-Maria schloss daraus, dass das Kind nicht hier umgebracht worden war. Aber was wollten der oder die Täter mit dem Kopf eines Kindes?
Ihre Überlegungen wurden unterbrochen. Unten am Rheinufer entstand ein Tumult. Die Arbeiter hatten sich dort versammelt, und anscheinend hatten sie etwas gefunden, denn sie kamen in großem Aufruhr zurückgelaufen. Dabei vergaßen sie ganz Anna-Marias Anweisungen und traten wild durcheinander. Wenn es irgendwo noch Fußabdrücke der Täter gegeben hatte, dann waren sie nun vollends zerstört. Sie fluchte laut. Erst als die Arbeiter näher kamen, erkannte Anna-Maria, dass sie, anders als vermutet, nicht den Kopf gefunden hatten, sondern einen weiteren Jungen. Lebendig. Und sie kannte das Kind!
»Das ist nicht möglich«, rief sie. »Niklas, du lebst!«
Innerhalb weniger Minuten wirbelten überwältigende Gefühle ihr Inneres erneut durcheinander, dieses Mal vor Freude. Sie ließ alle Zurückhaltung fallen und rannte auf die Arbeiter zu, die den Jungen wie einen gefassten Dieb vor sich hertrieben. Die Art, wie die Männer den Jungen anschleppten, gefiel ihr gar nicht.
»Was ist hier los?«, fragte sie.
»Das muss er sein«, erklärte prompt einer.
»Was muss er sein?«, fragte sie. Eine dunkle Vorahnung befiel sie. »Niklas, geht es dir gut?«
Aber der Junge wiegte seinen Kopf unschlüssig hin und her.
»Knüpfen wir ihn gleich hier auf!«, rief ein anderer Arbeiter.
»Die haben sich um was gestritten und zack, Rübe ab«, sagte ein dritter.
Die Stimmung war aufgeheizt.
»Bleiben wir erst mal ganz, ganz ruhig und überlegen gründlich, was hier vorgefallen sein könnte. Und vor allem, wer das getan hat«, sagte Anna-Maria und schob Niklas schützend hinter ihren Rücken. »Ich habe dich gesucht«, sagte sie an ihn gewandt. »Wo bist du denn nur gewesen?«
Niklas zitterte und entgegnete nichts. Schon unter normalen Umständen war er ein schweigsamer Junge. Und angesichts der gegenwärtigen Bedrohung war er unfähig, ein Wort über die Lippen zu bringen. Die Männer führten Äxte und Spitzhacken mit sich. Das konnte in einem grausamen Massaker enden.
»Wir haben Angst um unsere Kinder!«, hörte sie einen Arbeiter rufen, andere stimmten ihm zu. Die Männer riefen wild durcheinander.
»Er muss sich mit dem Jungen um eine tote Ziege gestritten haben«, behauptete ein anderer.
»Er hat auch ein Messer bei sich!«
»Ein Messer?«, hakte sie nach. »Was für ein Messer?«
Anna-Maria verstand nichts von Waffen, und das sagte sie den Männern. Sie verlangte von Niklas, ihr das Messer zu zeigen, der holte es bereitwillig aus der Hosentasche. Es war ein altes Messer, dessen schartige Schneide kaum länger als ihr kleiner Finger war.
Sie hielt es hoch und erklärte laut: »Ein Messer wie dieses hier ist viel zu klein für eine derartige Tat. Niemand, ich wiederhole, niemand kann mit einem stumpfen, kleinen Essmesser den Kopf eines Menschen vom Hals abtrennen. Das muss eine große Hiebwaffe gewesen sein, eine Axt, wie ihr sie bei euch habt. Und es erfordert sehr viel Kraft. Hört ihr? Sehr viel Kraft. Der Mörder muss ein Älterer gewesen sein.«
Die Männer interessierten sich nicht für ihre Erklärungen. Sie wandte sich an Bertoldi, der untätig und überfordert neben ihr verharrte. »Helft mir doch, verdammt«, forderte sie ihn auf. »Das ist feiger Mord an einem Kind. Das dürft Ihr nicht zulassen.«
»Warum nicht?«, erwiderte er.
Anna-Maria traute ihren Ohren nicht. »Er ist ein Kind«, wiederholte sie eindringlich. »Ihr dürft nicht zulassen, dass ein Kind getötet wird.«
»Besser, wir haben einen Täter überführt als keinen. Er bekommt seine gerechte Strafe! Das ist doch nur vernünftig!«
Anna-Marias Verzweiflung wuchs. Nichts daran hatte etwas mit Vernunft zu tun. Das führte zu nichts. »Hört mir zu, Männer, das ist Wahnsinn«, sagte sie, um sich Zeit zu verschaffen. Dann hatte sie eine Idee.
»Du«, pickte sie sich einen Arbeiter heraus, »hast du ein Messer bei dir?«
»Natürlich«, erwiderte der Mann, »womit soll ich sonst mein Essen zerteilen?«
»Und du?«, fragte sie einen anderen. Der nickte ebenfalls. Einem nach dem anderem stellte sie die gleiche Frage, und sie erhielt die gleiche Antwort. Denn jeder trug ein Essmesser bei sich. Die aufgeheizte Stimmung flachte merklich ab.
»Er kann die Leiche unmöglich getragen haben.«
Viele Arbeiter senkten beschämt den Blick.
»Geht wieder an die Arbeit«, sagte sie. »Dieser Junge kann nicht der Mörder sein, den wir suchen! Ihr schützt eure Familien am besten, wenn ihr den Deich baut, der uns vor der Flut schützen wird.«
Der Widerstand der Männer war gebrochen. Endlich ließen sie ihre Äxte und Hacken sinken und zogen nach einigem Zögern ab.
»Wo hast du dich versteckt?«, fragte sie den Jungen.
»Unten bei den Booten«, antwortete Niklas.
»Hast du was gesehen?«
Er schüttelte den Kopf.
»Und weißt du, wo der Kopf geblieben ist?«
Wieder verneinte er.
»Du musst mir gleich alles erzählen«, sagte sie eilig zu Niklas und lächelte. »Ich dumme Pute«, schalt sie sich. Sie war so froh, dass er wieder da war, so erleichtert, dass ihr beinahe wieder die Tränen gekommen wären.
»Komm mit, wir gehen nach Hause. Warum hast du dich bei den Booten versteckt und bist nicht zu mir gekommen?« Anna-Maria zog den Jungen mit sich fort. Auf die Idee, sich im Vierspänner zurück nach Cöln fahren zu lassen, kam sie erst gar nicht.
»Wo wollt Ihr denn hin?«, fragte Bertoldi auch gleich.
»Der Junge ist vollkommen unterkühlt und entkräftet. Ich sehe zu, dass er versorgt wird.«
»Was ist hiermit?«, fragte Bertoldi, in die Grube zeigend.
»Lasst den Leichnam zu mir in den Untersuchungsraum bringen«, befahl sie ihm kalt.
Seine Empörung darüber, wie sie mit ihm, dem Hofkammerrat, umsprang, war ihr egal. Sie ließ ihn einfach stehen.