9
Der Schädel dröhnte. Es war lausig kalt. Ihm war schlecht, gleichzeitig hatte er Hunger. Und sein Körper schmerzte an verschiedenen Stellen unterschiedlich stark. Venray fühlte sich, als hätte ihn die Hölle nur aus Versehen wieder ausgespuckt.
Er war zu schwach, um die Augen zu öffnen. Aus der Ferne hörte er das metallische Klirren von Klingen, die aufeinandergeschlagen wurden. Die Geräusche waren ihm vertraut, aber wer kämpfte und warum? Langsam kam er zur Besinnung. Man musste ihm irgendetwas verabreicht haben, ein Betäubungsmittel. Es fühlte sich an wie der schlimmste Alkoholrausch, den er jemals gehabt hatte.
Gern hätte er geschaut, was da vor sich ging, aber es kostete ihn immer noch viel zu viel Mühe, die Lider zu heben.
»Er wird wach«, hörte er jemanden sagen.
»Na, hilf ihm!«, befahl eine andere Stimme.
Man richtete ihn auf.
»Aufwachen! Aufwachen!«
Venray spürte einen Schlag im Gesicht. Es war eine fürchterliche Qual, die Augenlider zu kleinen Schlitzen zu öffnen.
»Was …«, versuchte Venray zu sprechen, aber die Zunge war ihm zu schwer, »was … habt Ihr mir gegeben?«
»Branntwein«, erklärte der Mann, der ihn festhielt.
Eine Vergiftung durch Alkohol, er hatte mit seiner Vermutung also genau richtiggelegen. Das Gesicht des Mannes tanzte viel zu nah vor seinen Augen herum. Es verwirrte ihn, und Venray bemühte sich, woanders hinzublicken.
Er trug weder seinen Mantel noch seine Gugel. Alles hatten sie ihm abgenommen. Vermutlich auch die Waffen. In der Nähe brannten zwei eiserne Feuerkörbe. Sie waren mitten auf dem zugefrorenen Rhein. Es dämmerte, doch selbst das nur noch schwache Licht schmerzte in seinen Augen.
»Branntwein«, sagte der, der ihn festhielt, nochmals, »sehr viel Branntwein.« Er lachte laut und dreckig. Andere Männer stimmten mit ein.
Man ließ ihn los. Venray hatte nicht die Kraft, sich aufrecht zu halten. Er kippte zur Seite und blieb auf dem Eis liegen. Egal, was man mit ihm vorhatte, er würde sich nicht wehren können. Er war vollkommen übertölpelt worden.
Man schüttete ihm Wasser ins Gesicht. Angesichts der zum Abend hin rasch fallenden Temperaturen konnte man flüssigem Wasser geradezu dabei zuschauen, wie es zu Eis erstarrte. Schon jetzt spürte er, wie sich einzelne Tropfen im Haar und im Gesicht erhärteten. Aber es machte ihn wacher. Er wollte sich mit den Ärmeln das Wasser von Gesicht und Kopf reiben und merkte erst jetzt, dass man ihm die Hände gebunden hatte. Deshalb war er eben einfach umgefallen und hatte keinen Halt gefunden. Er war so benommen, dass ihm jegliche Orientierung fehlte.
Im Lichtschein der Feuer fochten zwei Männer. Sie kämpften mit Säbel und Rapier. Beide Männer trugen nur Hemden. Jetzt erkannte Venray die übrigen Männer um ihn herum. Sie trugen unter ihren Wintermänteln die rot-weiße Uniform der Cölner Stadtwache. Einige trugen ein Gewehr mit Bajonett, andere waren mit Piken bewaffnet. Die schwarzen, spitz nach oben zulaufenden Mützen zeigten die niedrigen Ränge an. Einfache Soldaten. Einige trugen Zweispitz. Der dazugehörige Rang war ihm nicht bekannt. Wo war der Hauptmann? Warum hatte ihn die Stadtwache überhaupt festgenommen? Ging man etwa so mit Gästen um?
Venray beobachtete die Kämpfenden. Der Linke focht mit unglaublicher Schnelligkeit und Präzision. Er war ein überragender Fechter. Er hielt keinen Säbel in der Hand, sondern den schwertähnlichen Pallasch. Anders als der Säbel konnte der Pallasch auch als Stichwaffe eingesetzt werden.
Die Geschicklichkeit, mit der der Mann focht, erreichte man nur, wenn man mehrere Stunden am Tag übte. Dies hier war Training, ein Schaukampf. Und Venray wusste vom ersten Augenblick an, da er dem Kampf zuschaute, dass diese Veranstaltung ihm galt. Man wollte ihm vorführen, wie gut man war. Jeder Angriff, jede Parade war immer wieder bis ins Kleinste geübt worden. Hier wurde nicht gekämpft, um zu töten, sondern um mit viel Effekt spektakuläre Fechtkunst zu präsentieren. Mit einer realen Kampfsituation hatte das rein gar nichts zu tun.
Der rechte Fechter hatte keine echte Chance, schlug sich aber wacker. Wenn man so gut fechten konnte, war es schwer, gute Gegner zu finden, an denen man sich messen konnte. Die Heftigkeit, mit der der Fechter seinen Kontrahenten niedermachte, erinnerte Venray an den Räuber im bergischen Weiler, den er nur mit viel Glück besiegt hatte. Der rechte Fechter machte nur einen klitzekleinen Fehler, schon hatte er die Klinge seines Gegners am Hals. Der Kampf war beendet.
»Hauptmann«, gestand der Rechte außer Atem, aber mit glühender Bewunderung in der Stimme, »Ihr seid einfach – unbesiegbar.«
Der, den sie als Hauptmann ansprachen, nickte kurz und ausdruckslos. Dann kam er auf Venray zu. Er hatte scharfe Gesichtszüge, und ein besonderer Glanz lag in seinen Augen. Das war das Antlitz des Hochmuts. Er war jung und stammte sicherlich aus reichem, möglicherweise sogar adligem Haus.
Man reichte ihm einen Mantel, den er sich lässig über die Schultern warf, und zwei Becher mit einer dampfenden Flüssigkeit. An dem einen nippte der Hauptmann, den anderen reichte er Venray. Es war heißer Branntwein. Sobald ihm der Geruch in die Nase stieg, drehte sich ihm der Magen um. Venray musste würgen und erbrach sich auf das Eis.
Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, sagte der Hauptmann: »Trinkt, Ihr kühlt sonst aus, Euer Hochwohlgeboren.«
Venray ließ sich nicht anmerken, dass er genau verstand, was der Hauptmann damit ausdrücken wollte. Sie wussten ganz genau, wer er war, und hatten ihn dennoch so behandelt.
»Diese Stadt ist etwas ganz Besonderes«, begann nun sein Gegenüber. »Der Rat und die Ratsherren reden tagein und tagaus. Sie tun nichts anderes als reden. Denn sie können sich mitnichten auf das Geringste einigen. Sie wissen nicht, was sie tun sollen. Es herrscht Stillstand. Wenn sie sich dann mal einigen, passiert auch wieder nichts, weil ihr ausgehandelter Kompromiss so faul ist, dass er alle Handlung lähmt. Und in Bonn sitzt ein Erzbischof, der gerne handeln würde, der aber alle Macht in ›seiner‹ Stadt verloren hat.« Der Hauptmann lachte. »Und obendrauf kommt Ihr in diese aufgeheizte Stimmung und stellt Fragen über einen in Mülheim ermordeten Pater.« Der Hauptmann versicherte sich, dass Venray wach genug war, um ihm folgen zu können. »Ja, habt Ihr denn wirklich geglaubt, dass wir Euch mit offenen Armen empfangen?«
Als Venray etwas erwidern wollte, gebot sein Gegenüber ihm gebieterisch, zu schweigen. Schon wieder eine Beleidigung!
»Gewiss, gewiss«, setzte der Hauptmann seine Ansprache in salbungsvollem Ton fort, »Euer Ruf eilt Euch voraus. Was für eine Ehre: Der Amtmann für policeyliche Angelegenheiten Seiner kurfürstlichen Durchlaucht Carl Theodor von Berg beehrt uns mit seiner Anwesenheit. Ihr habt so viele policeyliche Reformen eingeführt, dass sich alle Gesetzesbrecher vor Euch fürchten müssen.«
Jetzt war es an Venray, dass er ein kurzes Auflachen nicht unterbinden konnte.
»Worüber lacht Ihr?«
»Bei Euch klingt das Wort ›Reformen‹ so, als hätte ich jemanden zum Tode verurteilt.«
»In der Tat, das habt Ihr auch«, erwiderte er heftig. »Ihr habt die alte Ordnung, das alte Regiment zum Tode verurteilt.«
Venray schwieg. Entweder war dieser Hauptmann größenwahnsinnig oder ein riesengroßer, aber ungeheuer altmodischer Prahlhans. In jedem Fall war er eitel und hörte sich am liebsten selbst reden. Venrays Erfahrung lehrte ihn, jemanden, der unbedingt reden wollte, nicht daran zu hindern. Er lieferte oft unfreiwillig besonders interessante Informationen.
Und tatsächlich kam es so, als der Hauptmann sagte: »Die Stadt will keine Ermittlungen. Es besteht kein Anlass, in alten Wunden zu bohren. Es wäre auch klüger von Euch gewesen, erst zu mir zu kommen. Ich leite hier die Untersuchungen – niemand sonst.«
Venray war bemüht, sich jedes einzelne Wort genau einzuprägen. Irgendjemandem musste er mit seinen Untersuchungen, überhaupt seinem Erscheinen in Cöln gewaltig in die Quere gekommen sein. Ob das etwas mit dem Treffen zu tun hatte, das er im Hurenhaus beobachtet hatte, konnte er nicht mit Gewissheit sagen. Es fügte sich noch nichts zu einem vollständigen Bild zusammen, er sah lediglich unglaublich viele Hinweise, Auffälligkeiten und ungeklärte Vorfälle.
»Sicher wäre das klüger gewesen«, stimmte Venray ihm zu, nur um mit kühler Härte zu ergänzen: »Vermutlich hättet Ihr mir dann gleich einen Sack über den Kopf gestülpt, nicht wahr?«
Dem Hauptmann wich das hochmütige Lächeln aus dem Gesicht. Der dünkelhafte Panzer seines Kontrahenten bekam erste Risse.
»Es konnte natürlich niemand ahnen, was sich alles um Pater Christoph abgespielt hat«, orakelte Venray.
Sein Gegenüber blinzelte nervös. Was hatte das zu bedeuten?
»Wusstet Ihr davon?«, erkundigte sich Venray gespielt arglos.
Aber der Hauptmann bekam sich nach längerem Schweigen wieder vollständig in den Griff und ließ sich zu keinen weiteren Aussagen über den ermordeten Pater hinreißen. Stattdessen sagte er: »Die Stadt befindet sich in einer sehr schwierigen Lage. Nein, die Lage ist äußerst schwierig. Der Handel liegt danieder, so schlimm wie noch nie zuvor. Alle hoffen, dass die Situation bald beendet ist. Dass endlich dieser Winter aufhört! Doch das Ende des Winters bedeutet Tauwetter! Und die Schmelze wiederum bedeutet – Flut. Wir hatten noch nie so viel Eis und Schnee, daher wissen auch alle, dass die Flut schlimmer kommen muss als bisher. Nur Gott kann das verhindern.«
Aus der Rede des Hauptmanns klang neben aller Bestimmtheit und zur Schau gestellten Überlegenheit auch große Unsicherheit und Verzweiflung.
»Sagt mir nur eins«, erwiderte Venray, »war Pater Christoph Jesuit?«
»Niemand kann etwas für seine Vergangenheit«, gestand der Hauptmann, ohne die Frage eindeutig zu beantworten. »Seht Ihr, Herr Amtmann, es ist schwer, bei klarem Verstand zu bleiben, während man das Gefühl hat, um einen herum bricht die Gesellschaft, ja das gesamte System und – wer weiß – sogar das Kaiserreich in sich zusammen.«
Venray legte die Stirn in Falten. Sprach der Hauptmann von sich selbst? Es war allgemein bekannt, dass Verschwörungstheorien von Dingen bis hin zum Untergang des Kaiserreichs kündeten. Streng genommen konnte eine solche Rede als Hochverrat gewertet werden. Was um alles in der Welt hatte dieser Mann nur vor?
»Ich liebe meine Stadt«, sagte der Hauptmann mit verändertem, verklärtem Tonfall. »Ich werde sie mit aller mir zur Verfügung stehenden Macht beschützen. Das ist meine Aufgabe!«
Oder handelte es sich bei diesem eitlen, undurchsichtigen Geschwafel viel mehr um das bornierte Geschwätz einer Marionette der Obrigkeit? Der Hauptmann hatte womöglich den Befehl erhalten, dem ungeliebten, fremden Amtmann eine »Lehre« zu erteilen. Ja, der Hauptmann führte nur Befehle aus, tat sich dabei wichtiger, als er war, und überschritt in der Misshandlung Venrays sicherlich seine Befugnisse, zumindest schoss er eigenmächtig über die ihm aufgetragene Zurechtweisung des Amtmanns hinaus. Das jedenfalls konnte dahinterstecken. Sicher war sich Venray jedoch nicht.
Urplötzlich griff ihn der Hauptmann am Kragen, als hätte er Venrays Gedanken erraten, und zog ihn hoch. Venray erschrak, da der Ausbruch so unvermittelt erfolgte. Der Hauptmann zog ihn ein Stück beiseite. »Arrogantes Blaukopp-Pack, was bildet Ihr Euch eigentlich ein!«, fluchte er. Die Soldaten lachten.
Venray blieb keine Möglichkeit zu reagieren.
»Ich war selbst Protestant«, fuhr der Hauptmann fort. »Glaubt mir, ich tue das nur, um Euch das Leben zu retten. Vertraut mir!«
Doch seine Worte sollten kein Vertrauen wecken. Er verhöhnte Venray und schubste ihn so brüsk weg, dass er Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. »Schert Euch zum Teufel!«, rief er laut.
Venray war höchst irritiert. Was hatte das alles zu bedeuten? Stand der Mann tatsächlich derartig unter Druck durch seine Befehlshaber? Sicher war nur, dass diesem Hauptmann nicht über den Weg zu trauen war.
Man warf ihm seinen Mantel und die anderen Besitztümer zu. Der Hauptmann bekam Venrays Säbel gereicht, den er aus dem Futteral zog. Schwungvoll hieb er die Klinge ins Eis, wo sie stecken blieb. Venray stutzte. Was um alles in der Welt hatte das nun wieder zu bedeuten? Wieso gab er ihm nicht einfach seinen Säbel zurück?
Was folgte, hätte Venray selbst in der dunkelsten Stunde nicht ahnen können. Der Hauptmann versetzte dem Säbel einen kräftigen Tritt, und der Stahl zerbrach. Venray verlor fast die Besinnung, so wenig begriff er, was hier geschah. Wieso beging der Hauptmann die unglaubliche Ehrverletzung und zerbrach seinen Säbel? Eigentlich musste er den Mann zum Duell fordern.
Auf einmal durchfuhr ihn die Erkenntnis: Was, wenn der Hauptmann genau das wollte? Nach dem Niederknüppeln hinterm Hurenhaus stellte er ihm nun erneut eine Falle. Er war ein überlegener Fechter und würde Venray sicherlich im Zweikampf besiegen, wenn nicht sogar töten. Diese Angelegenheit wäre im Nachhinein nicht mal anfechtbar: Zwei höhere Herrschaften hatten sich duelliert. Venray war unterlegen. Für alles andere gab es keine Zeugen. Die Sache wäre damit endgültig erledigt. Dem Hauptmann würde keinerlei Schuld zugesprochen. Venray schwieg, auch wenn es ihn gewaltige Mühe kostete.
Der Hauptmann überreichte ihm die Bruchstücke seiner Waffe und schob ihn dabei weiter aufs Eis hinaus.
Venray verlangte, den Namen des Hauptmanns zu erfahren, doch der antwortete nicht auf die Frage, sondern herrschte ihn an: »Verschwinde, Hundsfott! Und komm nie wieder!«