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Bertoldi saß mit einem pelzgefütterten Hausmantel bei Tisch und ließ sich das zweite Frühstück, bestehend aus frischem Brot, Speck und Käse, schmecken. Dazu trank er heißen Gewürzwein. Wer sich überhaupt etwas zu essen leisten konnte, war froh darüber, wenigstens ein Frühstück zu haben. Anna-Maria kochte vor Wut, nicht nur wegen ihrer Vorgeschichte mit dem Hofkammerrat, sondern auch, weil sie gerade aus dem Armenhaus kam. Dort gab es lediglich dünnen Haferbrei.

Auch Bertoldi war wenig erfreut, die Apothekerin zu sehen. Venray konnte die Missstimmung zwischen den beiden deutlich spüren.

Kurz nachdem sie im Herrenhaus der Papiermühle die fünf Kinder entdeckt hatten, war ihre Nachhut – eine Abteilung des bergischen Jägercorps – am Hof eingetroffen. Während der Oberst mit seinen Jägern den gesamten Hof durchsucht hatte, waren die geretteten Kinder zum Aufwärmen in die Küche gebracht worden. Die zwei Jungen und drei Mädchen – allesamt ein Jahr älter als Niklas – waren abgemagert, unterkühlt und boten einen bedauernswerten Anblick vollkommener seelischer wie körperlicher Verwahrlosung. Man hatte sie wie Tiere auf dem Dachboden eingesperrt und ohne Nahrung sich selbst überlassen. Und wie wilde Tiere benahmen sie sich auch. Sie sprachen kaum.

Niklas hatte sie sofort wiedererkannt als die Waisen, die von Pater Christoph dorthin gebracht worden waren. Fünf misshandelte und vollkommen geschwächte Mädchen und Jungen zu sehen hatte auch Ersterer und den Oberst entsetzt. Man gab ihnen Decken, setzte sie ans Feuer und reichte ihnen das Essen der Papierschöpfer. Anna-Maria hatte sie untersucht. Danach waren sie alle zusammen mit dem Corps zurück nach Mülheim geritten.

»Ich habe mich die ganze Zeit gefragt«, war Anna-Maria auf dem Rückweg herausgeplatzt, »wo er sich die Franzosenkrankheit eingefangen hat. Das war doch gleich verdächtig!«

Venray verstand nicht ganz, was und wen sie meinte, doch als Anna-Maria ihm ihren Verdacht offenbarte, erwiderte er kalt: »Dann werden wir dem Hofkammerrat wohl jetzt einen überraschenden Besuch abstatten.«

Und da standen sie nun, in Bertoldis behaglich gewärmtem Speisezimmer. Venray selbst hatte seit Stunden nichts mehr zu sich genommen, und Anna-Maria musste es ähnlich gehen. Bertoldi bot ihnen nichts zu essen an.

Zuerst hatte sich Venray vorgenommen, den Hofkammerrat mit Bedacht zu befragen, auf seinen Stand Rücksicht zu nehmen, denn Bertoldi verfügte über gute Kontakte nach Düsseldorf, und auch wenn er Venray keinen Schaden zufügen konnte, so hatte er zumindest Gelegenheit, Gerüchte zu streuen und den Amtmann schlechtzumachen. Doch angesichts dieser maßlosen Prasserei stieg Zorn in ihm auf, und Venray hätte seinem Gegenüber am liebsten das Rapier an den feisten Hals gedrückt.

»Klebig?«, fragte Anna-Maria und zeigte auf den Pelzmantel.

»Woher wisst Ihr …?«, erwiderte Bertoldi mit einem Gesichtsdruck, der besagte, wohl zu wissen, dass Anna-Maria sich niemals ein solches Kleidungsstück würde leisten können. Gleichzeitig verwunderte ihn die Tatsache, dass die Apothekerin den Kürschner kannte.

Die überfiel augenblicklich ein schlechtes Gewissen. »Das ist der Kürschner«, sagte sie kleinlaut an Venray gewandt, »von dem Niklas weglaufen ist.«

Venray wusste nicht, wovon Anna-Maria sprach, allerdings verstand er sehr gut, dass sie ihm etwas verschwiegen hatte.

»Ich habe den Kürschner neulich in Cöln aufgesucht und befragt«, erklärte sie weiter, »obwohl –«

Venray hatte genug. Er hatte wahrlich genug gehört, zog sie beiseite und sagte so leise, dass Bertoldi nichts verstehen konnte: »Diese kriminalpoliceyliche Strategie gilt es dringend zu überdenken, meine verehrte Frau Parisi! Und ich dachte, der da sollte was gestehen und nicht Ihr!«

Anna-Maria murmelte eine Entschuldigung.

»Habt Ihr mir sonst noch etwas verschwiegen?«, erkundigte er sich ernst.

»Ihm habe ich den Verlust meiner Arbeitserlaubnis zu verdanken«, sagte sie aufrichtig.

»Was wollt Ihr hier?«, mischte sich Bertoldi polternd ein, bevor Venray erwidern konnte, dass er längst eins und eins zusammengezählt hatte. Er fühlte sich völlig überrumpelt und musste erst wieder in die Spur kommen.

»Wenn es um die Arbeitserlaubnis der Apothekerin geht«, erklärte der Hofkammerrat hochmütig, »muss ich Euch beide leider enttäuschen.«

»Um wessen Enttäuschung es hier gehen wird«, fuhr Venray ihn an, nachdem er sich wieder gesammelt hatte, »wird sich genau dann herausstellen, wenn ich mit dem Kurfürsten persönlich über Eure Bestechung eines seiner hohen Minister gesprochen habe. Exakt dazu hat Seine Durchlaucht mich beauftragt.«

Bertoldi schluckte. Offenbar wurde ihm klar, dass er diesen Amtmann unterschätzt hatte.

»Immerhin erkennt Ihr mit dem Schreiben den Berufsstand von Frau Parisi an«, sagte Venray, und Bertoldi stutzte. Auch Anna-Maria legte die Stirn in Falten.

»Im bürokratischen Sinne kann nicht abgelehnt werden, was zuvor nicht anerkannt gewesen ist.«

Bertoldi brauchte noch eine Weile, bis er der Logik von Venrays Argumentation folgen konnte. Anna-Maria legte derweil ein überlegenes Lächeln an den Tag.

»Das wird Euch nur äußerst wenig Wohlwollen einbringen, zumal wenn Eure zweite Verfehlung zur Sprache kommt.«

»Wie? Was? Wovon sprecht Ihr?«

Bertoldi versuchte, den Unschuldigen zu spielen. Venray entlarvte sein aufgesetztes Gezeter sofort. Wutentbrannt entglitt ihm die Hand. Er verpasste dem feisten Kaufmann eine Ohrfeige, die sich gewaschen hatte. Selbst Anna-Maria zuckte vor Überraschung zusammen.

Bertoldi, der niemals damit gerechnet hätte, tätlich angegriffen zu werden, vergaß vor Überrumpelung die Schmerzen samt der Demütigung. Venray selbst erkannte sich nicht wieder. Schläge zählten nicht zu seinen gewöhnlichen Verhörmethoden.

»Geht es Euch gut?«, fragte Venray scharf.

Bertoldi nickte unsicher, da er meinte, der Amtmann spiele auf die Ohrfeige an.

»Ich meine«, insistierte Venray, »seid Ihr krank?«

Bertoldis Augen huschten schnell zu Anna-Maria hinüber, die sich nichts anmerken ließ.

»Bertoldi, schaut mich an!«, sagte Venray weiter. »Wem gehört die Papiermühle eine halbe Stunde die Strunde hinauf?«

»Woher soll ich das –«

»Ohrfeige gefällig?«, knurrte Venray, beließ es aber bei der Drohung. »Was ist in der Mühle passiert?«

Bertoldi fühlte sich derartig bedrängt, dass seine Lippen nur noch nervös bebten.

»Gut, mein lieber Hofkammerrat«, sagte Venray, »Ihr laviert Euch immer mehr Richtung Riff. Ich verliere meine Geduld. Und glaubt mir, wenn Ihr in einer Amtsstube arbeitet, müsst Ihr sehr viel Geduld haben. Was meint Ihr, wie viele unbeantwortete Fragen lasse ich Euch noch durchgehen, bevor ich Euer Schiff auf die Klippen jage?«

»Bitte«, flehte der Mann.

»Habt Ihr dort an einigen Lustfeiern teilgenommen?«, fragte Venray.

Bertoldi schnappte nach Luft, antwortete aber nicht.

»Sagt mir bitte«, mischte sich nun Anna-Maria ein, »wie viele Freudenhäuser gibt es in Mülheim?«

»Wieso wollt Ihr das wissen?«, entgegnete Bertoldi.

Venray schloss die Augen und sagte: »Beantwortet einfach nur die Frage der Apothekerin.«

»In Mülheim gibt es keine Freudenhäuser.«

»Wo ist denn dann das nächste Freudenhaus zu finden?«, setzte Anna-Maria ihre Befragung fort.

»In Cöln«, antwortete Bertoldi.

Venray räusperte sich. »Und wann wart Ihr«, wandte er sich nun wieder an Bertoldi, »zum letzten Mal in Cöln?«

»Im letzten Herbst.« Es war Bertoldi anzusehen, dass er sich auf all die Fragen keinen Reim machen konnte und sie als unzumutbare Aufdringlichkeit empfand.

Anna-Maria griff den Gesprächsfaden auf. »Demzufolge habt Ihr Euch also bereits im letzten Herbst mit der Franzosenkrankheit angesteckt?«

»Nein«, brüskierte sich der Kaufmann aufbrausend, hielt aber sofort inne, als ihm selbst bewusst wurde, dass er übertölpelt worden war. Über sein ungewolltes Geständnis musste Anna-Maria schmunzeln, so niedergeschlagen blickte Bertoldi drein.

Venray sagte eine ganze Weile gar nichts. Er setzte sich halb auf die Tischkante und ließ sein Gegenüber schmoren. Bertoldi wurde die Situation mit jeder Sekunde, die verstrich, unangenehmer.

»Wisst Ihr eigentlich, was wir in der Papiermühle gefunden haben?«, hob Venray an und berichtete in ausführlicher Weise, dass sie einen Arbeiter erschossen und einen weiteren verwundet hatten. Die Wahrscheinlichkeit, dass die anderen Männer bald geständig wären, sei sehr hoch, sicher würden die Arbeiter auch den einen oder anderen wiedererkennen, immerhin würden sie gerade vom Oberst befragt – was nicht ganz stimmte, sie waren lediglich eingesperrt –, und der Oberst sei nicht unbedingt zimperlich. Vor allem wegen ihres Fundes sei der Oberst, dessen Freund Bertoldi war, besonders ungehalten und unnachsichtig mit den Delinquenten. »Fünf Jungen und Mädchen, geschändet, misshandelt und beinahe zu Tode gequält«, sagte Venray. »Was für eine menschliche Bestie ist dazu fähig?«

Bertoldi wich Venrays Blick aus.

»Wenn der Oberst davon erfährt, dass Ihr etwas damit zu tun habt, könnt Ihr darauf wetten, dass von dieser Freundschaft nicht mehr viel übrig bleibt.«

Bertoldi blickte Venray überrascht an, der fuhr fort: »Eure Frau weiß doch auch nichts von alldem, oder? – Wo ist sie eigentlich?«

Der Kaufmann wurde nervös.

»Bertoldi«, mischte sich Anna-Maria ein, die nicht mehr an sich halten konnte, »wir müssen diesen Mörder finden, diesen Mülheimer Teufel. So sprecht doch und verratet uns, was Ihr über die Papiermühle wisst!«

Endlich löste sich die Zunge des Hofkammerrats, und er begann zu berichten. Was sie zu hören bekamen, versetzte sie in Wut und Abscheu gleichermaßen.

Als Anna-Maria und Venray kurz darauf das Haus verließen, blieben sie, noch ganz unter dem Eindruck von Bertoldis schockierendem Geständnis, vor der Tür stehen. Es hatte zu regnen begonnen, doch weder Venray noch der Apothekerin wollte die besondere Veränderung der Wetterlage anfänglich auffallen.

»Ich zweifle manchmal am Verstand mancher Menschen«, sagte Venray tonlos, »ganzer Menschengruppen.« Wie konnte man Lust empfinden, indem man sich an Kindern verging? Es ekelte ihn, doch er wagte nicht, diesen Gedanken gegenüber der Apothekerin auszusprechen, auch wenn er in ihrer Mimik eine ähnliche Fassungslosigkeit wahrgenommen hatte.

»Was passiert jetzt mit Bertoldi?«, fragte sie.

»Nicht viel, befürchte ich. Es gibt nicht mal ein Gesetz gegen Unzucht mit Kindern.«

Die Apothekerin gab ein resignierendes Stöhnen von sich. »Es ist viel wärmer als sonst«, bemerkte sie plötzlich, »oder täusche ich mich?«

Sie klang verwirrt. Venray hielt besorgt die Hand in den Himmel. Regentropfen nässten seine Handfläche.

»Verflucht«, presste er hervor, »auch das noch. Es taut!« Er dachte kurz nach, dann ließ er verlauten: »Ich muss sofort aufbrechen, ansonsten komme ich nicht mehr über den Rhein.«