14
Venray wartete seit Minuten. Er blickte an der Fassade hinauf. An den Fenstern des dreistöckigen Gebäudes regte sich nichts. Er nahm die Umgebung in Augenschein. Die Wohngegend war eindeutig nicht die beste. Einzig das Palais der Dupois stach aus den schlichten, eher baufälligen Gebäuden heraus. Oberst Zuccalmaglio, der ein weit besserer Cöln-Kenner war als er, hatte ihm berichtet, es gebe in der Stadt über zweihundert Patrizierfamilien. Kurioserweise, hatte Anna-Maria spöttisch hinzugefügt, deckte sich diese Zahl mit der Anzahl der Kirchen, Basiliken und Kapellen innerhalb der Stadtmauern. Die Familie Dupois zählte aufgrund ihrer Papiermanufaktur zu den reichsten Bürgern der Stadt. Warum, so fragte sich Venray, besaßen sie nicht ein Haus in besserer Wohnlage?
Venray klopfte erneut. Nichts. Diese Tür, da war er sich ziemlich sicher, würde sich für ihn nicht wieder öffnen. Die junge Frau – Dupois’ Tochter – war misstrauisch geworden, und nun stand er im wahrsten Sinne des Wortes vor verschlossenen Toren. Er biss kräftig auf das Mundstück seiner Pfeife, bis ihm die Zähne wehtaten. Er kochte vor Wut über sich selbst. Ein winzig kleiner Fehler – er hatte ein bisschen zu früh den Fuß zwischen die Tür geschoben – entwickelte sich zum vollkommenen Debakel.
Er gestikulierte zur Kutsche, jemand solle zur Rückseite des Hauses eilen. Der Oberst verstand sein Winken und setzte sich in Bewegung. Wahrscheinlich war es zu spät. Wenn er mit seinem Auftauchen nicht nur das Misstrauen einer jungen Frau geweckt, sondern jemanden gewarnt hatte, dann hatte derjenige längst genügend Zeit gehabt, um durch eine Hinterhoftür zu verschwinden.
Diese Chance war vertan. Venray begab sich zurück zur Kutsche und berichtete seinen Mitstreitern, was vorgefallen war. Auch der Oberst kehrte kurz darauf ergebnislos zurück. Auf der Rückseite des Palais war alles ruhig.
Nun mussten sie ihre zweite Option ausspielen und den Kürschnermeister Klebig aufsuchen. Nach dem, was Anna-Maria und Niklas berichtet hatten, war sich Venray sicher, dass Klebig mehr wusste. Vielleicht kannte er die Hintergründe und wusste, wer an den Lustorgien in der Papiermühle teilgenommen hatte. Im besten Fall kannte er sogar die Hintermänner und würde diese preisgeben. Sollte er keine Auskünfte erteilen wollen, hatten Anna-Maria und Venray abgesprochen, den Kürschner mit dessen entlaufenem Gehilfen Niklas zu konfrontieren. Bis zu dem Zeitpunkt sollte sich der Junge versteckt halten. Vielleicht würde das unerwartete Auftauchen Klebigs Zunge lockern.
Allerdings lag die Werkstatt des Meisters auf der anderen Seite der Stadt zwischen Neu Marck und Gereonsviertel. Zu Fuß ein weiter Weg. Doch mit der Kutsche kamen sie erst recht nicht weiter. Zu überlaufen waren die Hauptwege, und die Nebengassen waren mit dem großen Gefährt nicht zu befahren. Auch waren Hauptstraßen wie der Filzengraben, auf dem sie momentan standen, verengt, weil sich überall der seit Wochen angestaute Schnee stapelte.
Es blieb ihnen keine andere Wahl, als sich zu Fuß durch die überfüllte Stadt zu kämpfen. Das entsprach gar nicht ihrer ursprünglichen Absicht, möglichst zügig und unerkannt durch die Reichsstadt zu kommen. Ersterer blieb mit seinem Knecht zurück. Die beiden Männer hatten große Mühe, die Kutsche zu wenden.
Der Oberst besaß die beste Ortskenntnis von ihnen, und aufgrund seiner militärischen Vorerfahrung mit der Stadt hatte er in Windeseile den schnellsten Weg vom Kürschner zum Rhein – an der Herrenleichnamskirche und anschließend durch das Ursulaviertel – ausgemacht. Sie verabredeten, dass Ersterer die Stadt wieder verlassen und über den Rhein bis zum nördlichen Tor, der Kunibertstorburg, fahren sollte, um dort auf sie zu warten.
Die mitgeführten Kostüme kamen nun zum Einsatz. Venray ließ seine auffällige Pelzgugel zurück und setzte stattdessen einen Dreispitz auf. Der Oberst, der seine Uniform erst gar nicht angezogen hatte, sondern schlichte Culotten mit Justeaucorps unter dem Reitermantel trug, verzierte sich mit einigen bunten Federn. Anna-Maria setzte eine Gesichtsmaske auf, sie weißte Niklas das Gesicht mit Schminke und band ihm blaue, gelbe und grüne Bänder um. Sie überlegten kurz, was er darstellen sollte, und einigten sich auf einen Harlekin. So tauchten die vier im Trubel der Menge unter.
Sie ließen die Basilika St. Georg und den Weid Marck hinter sich und schlugen sich quer durch die Stadt. Je näher sie dem Neu Marck kamen, umso ausgelassener und dichter wurde die Menge. Die Feiernden und Betenden dominierten mittlerweile vollständig das Stadtbild. Beide Gruppen gebärdeten sich derart exzessiv, dass eine Unterscheidung nur anhand der Kostümierung vorzunehmen war.
Eine Mutter, verzweifelt oder betrunken, das war nicht genau auszumachen, schlug ihr Kind, das einen Knaben-Dreispitz, gekrönt mit Dreimaster, trug. Der Junge nahm die Prügel teilnahmslos hin. Ein Mann mit kariertem Ganzkörperkostüm machte sich plötzlich frei und schiss dort, wo er stand, in den Schnee. Die ihn Begleitenden amüsierten sich darüber prächtig. Überall wurde getrunken. Hin und wieder rauften sich zwei oder mehrere Männer.
Viele Geistliche waren ebenfalls unterwegs, sie erteilten Absolution oder priesen lautstark die Gnade des Herrn. Für die Absolution verlangten sie einen Stüber. Eine Gruppe von ungefähr fünfzig tanzwütigen Pilgern, die sich in ihrer Ekstase mit Geißeln schlugen, übertraf alles bisher Gesehene. Anfangs hatte Venray geglaubt, es handle sich dabei um eine derbe Karnevalsparodie, zumal viele Umstehende die Pilger auslachten und anders verhöhnten. Doch das Blut, die durch die Geißelungen entstandenen Verletzungen waren echt. Die Stimmung wirkte aufgeheizt und aggressiv. Und hörte man den Geistlichen zu, die die Menschen vor dem »Zorn Gottes«, der bevorstehenden Flut, warnten, konnte man fast glauben, dass die Welt vor ihrem Untergang stünde. Die Stadt war außer Rand und Band.
Als sie St. Cäcilia passiert hatten, schlugen sie einen Bogen und betraten von der Lungengasse kommend die südliche Ecke des Neu Marcks. Zu ihrer Linken überragten die drei Türme der romanischen Kirche St. Aposteln die blätterlosen Bäume, die, ein großes Oval beschreibend, den weitläufigen Platz umsäumten.
Auf dem verschneiten Platz war der Rosenmontagsumzug in vollem Gange. Zahllose Wagen mit imposanten Aufbauten und großen Fahnen, geschmückten Pferden oder als Pferde verkleideten Menschen, die den Wagen zogen, fuhren im Kreis. Rot und Weiß waren bei den Verkleidungen die vorherrschenden Farben. Es wurde gesungen, gelacht und laut ausgerufen. Nur die Parade der Cölner Stadtwache blieb einigermaßen geordnet. Einige Kutscher hatten Mühe, ihre scheuenden Pferde ruhig zu halten.
An der Ostseite sah Venray einen Karren, dessen Pferd durchging und mitten durch die Menge raste. Trotz der Gefahr lachten und applaudierten die Menschen. Verschiedene Gruppen von Musikanten spielten auf. An mehreren Stellen brannten große Feuer, darum herum waren Holzhütten aufgebaut, in denen allerlei Getränke und Essen verkauft wurden. Hier fanden sich kaum Betende, bis auf eine Gruppe Geistlicher, die sich auf St. Aposteln zubewegte.
Ohne ihre eigentliche Aufgabe zu vergessen, genossen sie für einen Augenblick die ausgelassene und wunderliche Stimmung des Umzugs. Denn von Aggressivität war hier nichts mehr zu spüren. Die Menschen schienen wenn auch überschwänglich, so doch aufrichtig zu feiern. Und das verlieh der stimmungsvollen Atmosphäre etwas Friedliches.
Venray empfand fast so etwas wie Neid im Angesicht dieser Menschen, die fähig waren, trotz Hunger, Kälte und drohender Flut jeglicher Vernunft zu entsagen und mit ausgelassener Heiterkeit den Feierlichkeiten nachzugehen. Er suchte den Blickkontakt mit Anna-Maria, doch aufgrund ihrer Maske konnte er ihre Mimik nicht erkennen.
Eben passierte direkt vor ihnen ein berittener Spielmannszug, gut und gern dreißig gut gelaunte Musikanten mit ebenso vielen Pferden. Die Musiker spielten auf Trompeten, Schalmeien und Flöten. Sie trugen grün-gelbe Spitzhüte auf dem Kopf, dazu eine Art lange Tunika in strahlendem Rot. Die Musikanten bliesen, was ihre Lungen und Instrumente hergaben. Venray staunte, dass die Pferde angesichts des ohrenbetäubenden Lärms ruhig und sogar freihändig geführt in Formation blieben.
Kaum waren die Spielleute weitergezogen, entstand eine Lücke im Umzug. Direkt gegenüber – keine fünfzig Meter von ihnen entfernt – saß auf einem Pferd ein Soldat der Stadtwache. Sein Zweispitz mit Federbusch zeichnete ihn als Offizier aus. Er fiel Venray deshalb sofort auf, weil er nicht wie die ihn umgebenden Menschen feierte, sondern mit konzentriertem Blick die Menge absuchte und durch die Lücke hindurch schließlich fand, was er suchte. Der Hauptmann zögerte keinen Augenblick und trieb seinem Pferd die Hacken in die Seiten. Das Pferd bäumte sich kurz auf, dann preschte es auf Venray los. Sein Widersacher schien nicht mal überrascht zu sein, was Venray sehr beunruhigte. Woher konnte der Hauptmann denn wissen, dass Venray unerlaubt zurück nach Cöln gekommen war?
Der Gewaltritt wurde von einem neuen Wagen unterbrochen, der sich zwischen die Kontrahenten schob und die Lücke im Umzug schloss. Es war ein großes Schiff mit Rädern, einem ballonartigen Segel in grün-weiß-roten Farben und Fahnen, groß wie eine Häuserfassade, die kräftig im Wind schlugen. Venray nutzte die Deckung und gab Anna-Maria rasche Anweisungen.
»Über die Sache mit dem Zufall müssen wir nochmals ausführlicher reden«, begann er.
»Was meint Ihr?«, erwiderte Anna-Maria belustigt.
»Wir sind aufgeflogen.«
Die Heiterkeit wich aus ihrem Gesicht. »So schnell?«
»Wir müssen uns sofort trennen.«
An den Oberst gewandt, der zugehört hatte, sagte Venray: »Bringt sie in Sicherheit! Auch wenn wir unseren Plan, Klebig aufzusuchen, fallen lassen müssen.«
Das Karnevalsschiff war vorbeigezogen. Eine neue Lücke konnte jederzeit entstehen.
»Flieht!«, rief Venray ihnen zu und lief ebenfalls davon, um die Aufmerksamkeit des Hauptmanns einzig auf sich zu lenken. Er rannte durch die Menge Richtung Osten. Nichts wie weg von Anna-Maria, Niklas und dem Oberst, die der Hauptmann nicht kennen konnte. Nur so hatten sie eine Chance, unerkannt zur Kutsche zurückzugelangen. Er selbst würde sich allein besser verstecken können, um davonzukommen. Denn mit allem, was der Hauptmann ihm beim letzten Mal angetan hatte, war seine Warnung überdeutlich gewesen: Geht und kommt nie wieder!
Doch wohin sollte er laufen? Er riss sich den Dreispitz vom Kopf und versuchte, in der Menge unterzutauchen. Da fiel ihm das Palais des Grafen Nesselrode wieder ein. Sein Quartier während seines letzten Aufenthalts lag an der nordöstlichen Seite des Neu Marcks ganz in der Nähe der Schilderer Gasse. Sicherlich würde man ihm im Nesselroder Hof Unterschlupf gewähren. Wenn er es bis dahin schaffte. Doch in der Menschenmenge würde sein Verfolger es schwer haben, ihm auf den Fersen zu bleiben.
Es waren nur noch wenige Meter bis zur Treppe zum Haupteingang des rettenden Palais. Venray beeilte sich, vermied aber auffälliges Rennen. Vor dem Gebäude lichteten sich die Menschenmassen ein wenig. Eben wollte er die Treppenstufen hinaufeilen, da riss ihn etwas mit Gewalt von den Füßen. Ein Pferd hatte ihn in vollem Galopp gerammt. Einfach umgehauen. Venray wirbelte durch die Luft. Aufgetürmter Schnee dämpfte schließlich seinen harten Fall.
Er versuchte, sich aufzurappeln, da stand der Hauptmann schon über ihm und bedrohte ihn mit der Klinge. Dieser Mann war verdammt schlau! Er musste Venrays Vorhaben, sich im Palais eines bergischen Verbündeten zu verstecken, vorausgesehen haben.
Venray rührte sich nicht. Zwar fielen ihm einige gute Gründe ein, die Herausforderung anzunehmen, aber dieser Kampf käme zur Unzeit.
»Wieso seid Ihr wieder in der Stadt?«, fragte der Hauptmann.
»Ihr behindert meine Ermittlungen«, protestierte Venray und ging zumindest mit Worten zum Gegenangriff über. »Ihr greift in aller Öffentlichkeit einen Amtmann des bergischen Kurfürsten an. Was fällt Euch ein?«
»Ich habe Euch gewarnt. Ihr habt hier keinerlei Befugnisse. Die Schonzeit ist vorbei«, erwiderte der Hauptmann, ohne auf Venrays Einwurf zu reagieren.
»Monsieur, ich suche einen Mörder«, rief Venray mit einem Unterton der Entrüstung, um seinen Gegner zur Vernunft zu bringen.
»Genauso wie ich«, sagte der Hauptmann herablassend und winkte dabei einige seiner Soldaten heran, die in der Zwischenzeit hinzugeeilt waren. Die Antwort verwirrte Venray aufs Höchste. »Festnehmen«, ließ der Hauptmann verlauten.
Die Arroganz dieses Soldaten war wirklich nicht zu überbieten.
Dann eben doch heute, dachte Venray und riss sein Rapier aus der Scheide. Der überraschende Angriff mit links war seine einzige Chance, sich freizukämpfen. Er verpasste dem Hauptmann einen argen Schnitt in dessen rechte Wange. So getroffen, taumelte der Hauptmann zurück. Das musste höllisch schmerzen und würde einen ordentlichen Schmiss geben.
Venray sprang auf die Beine, zog den beschädigten Säbel und signalisierte damit, Genugtuung zu fordern. Doch nun war es der Hauptmann, dem nichts an einem Duell zu liegen schien. Die Schmutzarbeit überließ er seinen Soldaten. Fünf Männer umzingelten ihn, die Bajonette, Piken und Säbel auf ihn gerichtet. Venray wehrte sich erbittert, aber es waren einfach zu viele. Er wurde überwältigt und in den Schnee gedrückt.
Der Hauptmann ignorierte das triefende Blut seiner Wunde, beugte sich über ihn und setzte ihm die Klinge an den Hals. Hasserfüllt spie er Venray an: »Mörder!«