Kapitel 42
April 1914
Keuchend stieß die Lokomotive grauweißen Dampf aus, als sie in den Münchner Bahnhof einrollte. Obwohl es sehr früh am Morgen war, war der Bahnsteig voller Menschen. Damen und Herren warteten im morgendlichen Kältedunst, um ihre Liebsten, Freunde oder Verwandten abzuholen. Gepäckträger eilten hin und her. Da waren Bahnbeamte, Wachmeister und Zeitungsverkäufer. Elisa hatte die Fingerspitzen an das vom Fahrtwind eisige Fenster gelegt und konnte sich gar nicht an dem Trubel sattsehen.
Inzwischen hatte sich der Waggon bis auf zwei Diener, die einen Teil des Gepäcks hinaustrugen, schon fast geleert.
»Kommst du?«, fragte Louis sie.
Ein angenehmes Prickeln erfüllte Elisas Körper, als er eine Hand auf ihren Rücken legte, um ihr die drei steilen Stufen des Nachtzugs hinabzuhelfen. Auf dem Bahnsteig hakte sie sich ganz selbstverständlich bei Louis ein. Die Kälte drückte den Dampf der Lokomotive hinab auf die Gleise, auf denen rußgeschwärzte Arbeiter in dicken Filzstiefeln und Mänteln geschäftig umherliefen. Dahinter stieg die Sonne empor.
»Sieh an, was wir hier einmal mehr finden.« Louis wies auf einen gelben Stollwerck-Schokoladenautomaten. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass mein Vater sich nur deshalb gegen die Automaten sperrt, weil der Vorschlag, ebenfalls welche aufzustellen, von mir stammt.«
»So darfst du nicht denken«, erwiderte Elisa. »Er und Franz müssen selbst erst einmal in ihre Rolle des Geschäftsführers einer Süßwarenfabrik finden.«
»Glaubst du, dass sie das jemals werden? Sie sind Bankiers mit Leib und Seele und werden deshalb immer erst einmal sorgenvoll auf Geldausgaben blicken. Sie sehen nicht, dass Investitionen die Zukunft der Firma sind. Wie soll es bergauf gehen, wenn alles beim Alten bleibt und wir nichts Neues wagen?«
»Es war viel los in den letzten Monaten. Dein Vater hat vielleicht einfach noch nicht die Zeit gefunden, sich deiner Vorschläge anzunehmen.«
»Und was ist mit dir? Es ist doch die Firma deines Vaters. Sorgst du dich nicht darum, wie es weitergeht?«
Dass Louis sich für ihre Meinung interessierte, erstaunte und ehrte Elisa und führte dazu, dass er noch mehr in ihrem Ansehen stieg. Sie war damit groß geworden, dass ihr Vater ihrer Mutter tagtäglich zu verstehen gegeben hatte, eine gute Gattin hätte sich aus den Geschäften ihres Mannes herauszuhalten. Frauen seien nicht mehr als dekoratives Beiwerk, das sich um Haushalt und die Erziehung der Kinder zu kümmern habe und im Übrigen zu ungebildet war, um das weite Feld einer Unternehmensführung zu begreifen. Louis’ Vertrauen in sie regte sie an, sich mehr Gedanken über die Zukunft der Von Treue GmbH zu machen.
Sie nahmen sich ein Taxi nach Feldafing, wo Louis’ Tante Florence direkt am Starnberger See wohnte. Elisa war so müde, dass sie trotz der holprigen Fahrt immer wieder kurz wegnickte. Irgendwann rüttelte jemand sanft an ihrer Schulter. »Aufwachen«, sagte Louis. »Wir sind da.«
»Ach, du liebes bisschen! Das nenne ich mal eine Überraschung!«, rief Florence aus, nachdem ihr Hausdiener Louis und Elisa angekündigt hatte. Obwohl es inzwischen gewiss schon neun Uhr morgens war, war sie noch immer nicht angekleidet, sondern trug einen japanischen Morgenrock mit malerisch verzierten und weiten Ärmeln, die bis knapp über den Boden reichten.
»Entschuldige den Überfall, Tantchen.«
»Ach, papperlapapp! Es ist ja nicht so, dass ich dergleichen nicht von dir kennen würde, mein lieber Neffe.«
Florences Villa war wie Florence selbst: stilbewusst, aber gleichermaßen handfest. Weinranken und wilder Efeu bedeckten fast die gesamte Front, an deren rechter Seite ein spitz zulaufender Turm in die Höhe ragte. Auf diesem Turm prangte das Familienwappen von Florences verstorbenem Gatten: ein nach einer Maus greifender Falke.
Die Villa lag auf einem abfallenden Hügel und hatte insgesamt drei Stockwerke. Die Zimmer des ersten und zweiten Stocks hatten jeweils Zugang zu einem großflächigen Balkon, auf dem Korbstühle das morgendliche Sonnenlicht einfingen. Zum Garten hin gab es einen Anbau aus dunklem Holz, das sich in der Wärme der Morgensonne ausdehnte und knisterte. Flache Steinstufen führten den Hang hinab, vorbei an Rondellen mit bunten Frühlingsblumen und zwei Reihen von blühenden Apfelbäumen. Die schweren, tief hängenden Äste einer uralten Linde berührten auf einer Seite fast das frisch gestutzte, duftende Gras, auf der anderen Seite hingen sie teils im bewegten Wasser des Starnberger Sees.
Die Villa wurde bewirtschaftet von drei Angestellten: einer Köchin, einem betagten Dienstmädchen namens Käthe, das Louis aufs Herzlichste begrüßte, und einem Hausdiener namens Mikael, der ihre Koffer in das Gästezimmer im ersten Stock trug. Mikael war gerade mal neunzehn Jahre alt, weshalb seinem hübschen, unverbrauchten Gesicht die männliche Herbheit fehlte. Florence genoss es, seine schwedischen Wurzeln zu betonen, die sich vor allem im Weißblond seiner dichten Haare ausdrückten.
Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen wartete Mikael in einer Ecke des Raums auf Anweisung, während Florence sich einmal um sich selbst drehte und dann mit ausgebreiteten Armen trällerte: »Voilà, euer Zimmer!«
Als Elisa dem breiten Doppelbett mit seidenem Überwurf gegenüberstand, stieg ihr sämtliches Blut in den Kopf. »Gibt es … Würde es eventuell noch ein zweites Gästezimmer geben?«, wagte sie es zu fragen. »Es ist nur, dass ich meist in der Mitte des Bettes schlafe, um nachts nicht aus Versehen hinauszufallen … «
»Leider nein. Aber keine Angst, meine Liebe. Louis hält dich einfach fest, dann kann nichts passieren.«
Den Abend verbrachten Louis und Elisa mit Florence im Landschaftszimmer, um dieser von den neuesten Entwicklungen in Berlin zu berichten. Florence war, nachdem Elisa ihr erzählt hatte, dass sie jahrelang von ihrem Arzt und ihren Eltern durch Medikamente ruhiggestellt worden war, den Tränen nahe. Sie holte eine Flasche Schnaps sowie drei Gläser, doch Louis und Elisa lehnten beide ab.
Die Kuckucksuhr läutete Mitternacht. Florence, die noch immer ganz blass war, wünschte eine gute Nacht und zog sich zurück.
»Man nimmt das zunächst gar nicht an, wenn man sie kennenlernt, aber sie ist sehr sensibel«, erklärte Louis.
Zu einer Seite hin wurde die Eckbank von einem mit bunt bemalten Kacheln verzierten Ofen begrenzt, in dem ein Feuer knisterte, das Elisa eben noch als gemütlich empfunden hatte. Mit einem Mal erschien es ihr zu heiß in dem Raum. Es lag an Louis, an seiner Nähe, an der Tatsache, dass sie die Nacht gemeinsam in einem Bett verbringen würden. In derselben Sekunde, in der Elisa sich von der Eckbank erhob, sprang auch Louis von seinem ihr gegenüber platzierten Stuhl auf.
»Ich wollte ans Fenster«, sagte sie.
»Ich hatte denselben Gedanken«, sagte er.
Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen stellten sie sich nebeneinander und bewunderten den vollen silbernen Mond.
»Wir sollten auch zu Bett gehen«, sagte Louis nach einer Weile an den blühenden Sternenhimmel gerichtet.
»Ja, ich bin müde«, sagte Elisa, wagte es aber nicht, Louis ins Gesicht zu blicken.
Ein paar Atemzüge lang waren da nur das Ticken der Uhr und das Knistern des Kamins, die das zwischen ihnen entstandene Schweigen hörbar werden ließen.
Jäh meinte Louis: »Ich schlafe im Salon auf dem Sofa.«
»Nein … nein, das kommt nicht infrage. Wir teilen uns das Bett. Das ist schon in Ordnung.«
Wie oft waren sie schon hintereinander die Treppe hinaufgestiegen? Nie war Elisa dabei so nervös gewesen. Ihr Herz machte auf sich aufmerksam, indem es kräftig schlug.
Die Zeit, die Louis im Bad verbrachte, nutzte Elisa, um sich zu entkleiden. Sie beeilte sich, doch ihre Finger mühten sich an den Knöpfen ihrer Bluse ab. Sie streifte sich gerade ihr Nachtkleid über, als Louis hereinkam. Kurz hielt er inne, unter seinem Blick wurde ihr ganz heiß. Doch dann steuerte er zielstrebig dem Bett entgegen, wo er sich in einer einzigen, schnellen Bewegung das Hemd über den Kopf zog. Das erste Mal in ihrem Leben sah Elisa einen nackten Männeroberkörper. Noch dazu einen, der ausgesprochen schön anzusehen war. Mit einem Mal prickelte ihr ganzer Körper, und gleichzeitig war sie derart nervös, dass sie kaum noch atmen konnte.
Louis legte sich hin, wartete, bis auch Elisa unter ihre Bettdecke geschlüpft war, und löschte dann das Licht. »Gute Nacht«, sagte er leise.
»Gute Nacht«, hauchte sie.
Mondlicht fiel zwischen den Vorhängen hindurch und umspielte die Muskulatur von Louis’ schönem Rücken. Sie fragte sich, wie es wohl wäre, über diesen Rücken zu streichen, seine Muskeln zu spüren, ihre Haut auf seiner … Elisa musste es sich eingestehen: Sie fühlte sich zu Louis hingezogen.