Kapitel 74

Es hatte eine Zeit gegeben, in der Elisa ihren Vater hin und wieder in der Schokoladenfabrik besucht hatte. Das war vor ihrem siebten Geburtstag gewesen, bevor ihre Eltern sie zu Hause eingesperrt hatten.

In anderen Werken drehte einem der konzentrierte Geruch von verbrannter Kohle und Schmierfett den Magen um. In der Schokoladenfabrik duftete es nach gerösteten Kakaobohnen und Aromen wie Vanille oder Rum.

Seit Tagen versuchte Elisa, sich im Büro ihres Vaters mit den Firmengeschäften abzulenken, aber oft war sie mit ihren Gedanken bei Joseph oder Louis. Mit dem Unterschied, dass sie nur zu Hause anrufen musste, um zu erfahren, ob es Joseph gut ging. Wenn ein Brief von Louis sie erreichte, in dem er ihr seinen Aufenthaltsort nannte, war er wahrscheinlich schon längst wieder weitergezogen. Elisas Herz blutete.

Doch manchmal sah sie Louis. Sie sah ihn wirklich. Dann war es, als stünde er im Raum und spräche mit ihr. Sie hatte Frieda davon erzählt, woraufhin sie Elisa mit einem sorgenvollen Blick bedacht hatte. Elisa wusste, wie verrückt das klang. Aber Louis war bei ihr, um ihr Mut zu machen und ihr zu versprechen, dass er, egal wie, zu ihr zurückkommen würde.

Mit Louis an ihrer Seite hatte sie sich stark gefühlt. Ohne ihn fühlte sie sich klein und verwundbar. Wie sollte sie das Von-Treue-Unternehmen ohne ihn führen?

In ihren Händen hielt sie einen Brief, der sie heute Morgen erreicht hatte.

Elisa, meine Elisa,

in deinem letzten Brief hast du mich darum gebeten, ehrlich zu sein, wenn ich dir sage, wie es mir geht. Die Wahrheit ist: Ich weiß es nicht. Ich habe Angst, darüber nachzudenken.

Ich schreibe dir aus dem Feldrekrutendepot. Dort werden wir neu zusammengestellt und die Lücken gefüllt. Unsere Kompanie braucht über hundert Mann Ersatz. Die Neuen sind alle noch so schrecklich jung … Wenn ich mit ihnen rede, fühle ich mich wie steinaltes Militär. Zum Abendessen gab es Steckrübenbrot, aber Kaiser meinte, dass es eher aus Sägespänen gemacht war. Es gibt wohl Gerüchte, dass das Essen auf diese Weise gestreckt wird. Man merkt, dass wir nahe am Meer sind. Nachts wacht man vor Kälte immer wieder auf.

Die Front ist wie eine ungewisse rötliche Helle am Horizont. Sie ist in ständiger Bewegung. Wird vom Mündungsfeuer der Batterien durchzuckt. Leuchtkugeln steigen immer wieder auf. Stell sie dir vor wie silberne und rote Bälle, die zerbersten und in weißen, grünen und roten Sternen niederregnen. Eigentlich fast schön.

Eine unerhörte Qual ist, wie sehr die Tiere leiden. Wie viele Pferde an der Front sterben. Kaiser weiß, wie man Pferdefleisch weich braten kann. Anfangs habe ich mich geweigert, davon zu essen. Aber inzwischen ist der Hunger zu groß.

»Ich will nach Hause«, meinte Kaiser gestern zu mir, als wir Stacheldraht spannen mussten und uns dabei die Hände aufgerissen haben. Aber er meinte damit nicht sein richtiges Zuhause, sondern die Baracken. Und ich habe sofort gewusst, was er meint. Und das hat mir Angst gemacht. Denn mein Zuhause, meine liebe Elisa, das bist doch eigentlich du. Langsam scheinen alle um mich herum zu vergessen, wo sie herkommen und wer sie sind. Der Krieg verleibt sich uns ein. Nur der Gedanke an dich erinnert mich daran, dass ich nicht das stumpfe Monster bin, für das ich mich halte.

Mehr kann und werde ich dir nicht erzählen. Das, was tagtäglich an der Front geschieht, kann mit nichts in der Welt beschrieben werden. Und es soll nichts mit dir zu tun haben. Wenn ich dir schreibe, dann will ich nur darüber sprechen, wie sehr ich dich liebe.

Als ich damals in der Eisenbahn saß und von dir fortgebracht wurde, da habe ich mich gefühlt, als hätte man mir die Seele aus dem Leib gerissen. Du bist meine Seele, Elisa. Und solange du zu Hause auf mich wartest, kann ich mir vorstellen, irgendwann, wenn dieser Krieg vorbei ist, wieder zu dem Menschen zu werden, der ich früher einmal war.

Man überlegt, mir bald Urlaub zu geben! Sicher ist es noch nicht. Aber ich bemühe mich, besonders positiv aufzufallen, damit sie nachsichtig sind. Deshalb werde ich mich in nächster Zeit hin und wieder freiwillig melden. Beispielsweise morgen, denn da soll eine Patrouille ausgeschickt werden, um festzustellen, wie weit die feindliche Siedlung noch besetzt ist. Hinzu kommt, dass ich bezüglich meines Urlaubs ein sonderbares Gefühl den anderen gegenüber habe, als würde ich sie im Stich lassen. Aber vielleicht werde ich schon bald bei dir sein! Ich kann an nichts anderes mehr denken, als dich vielleicht bald in meine Arme zu schließen, den Duft deines Haars einzuatmen und genau so zu verweilen, bis mein Herz ganz leicht wird.

Du hast mich schon einmal gerettet, als ich verloren war. Und du wirst mich auch ein zweites Mal retten.

Elisa, ich liebe dich so sehr, dass ich Angst habe, niemals für meine Gefühle die richtigen Worte finden zu können. Du bist alles für mich.

Dein Louis

Draußen hatte es wieder zu schneien begonnen. Es war Elisa, als fiele der Schnee direkt in ihr Herz. Louis durfte sich nicht freiwillig melden, wenn es darum ging, feindliches Gebiet auszuspionieren! Vor Sorge um ihn wurde ihr ganz schlecht.

In dem Augenblick klopfte es an der Tür. »Herein.«

Es war Johann. Seit fast fünfzig Jahren war er als Vorarbeiter der Schokoladenfabrik treu ergeben und kannte die Fabrik wie seine Westentasche. »Entschuldigen Sie, Frau Lindquist. Aber hätten Sie einen Moment Zeit?«

Elisa spürte, dass Johann sie musterte, und richtete sich auf. Sah er ihr etwa an, dass sie den Tränen nahe war? »Gewiss, Johann.«

Johann trat vor sie, wobei er leicht hinkte. Er hatte im Deutsch-Französischen Krieg gedient und war damals am Bein verletzt worden. »Wir müssen Sparmaßnahmen treffen«, sagte er. »Dringend. Alles wird rationiert. Meine Frau hat gestern keinen Zucker mehr bekommen, als sie einkaufen war. Und das ist erst der Anfang! Gleichzeitig steigen die Lebensmittelpreise täglich. Wenn es so weitergeht, überlebt die Fabrik kein Jahr mehr!«

Elisa ließ sich auf den breiten Stuhl hinter dem Schreibtisch nieder und legte die Arme auf die Lehnen, darum bemüht, den Eindruck zu erwecken, sie hätte alles unter Kontrolle. »Das ist mir bewusst. Ich suche nach einer Lösung.«

»Ich befürchte, dafür ist keine Zeit mehr. Wir müssen Mitarbeiter entlassen.«

»Sie wollen Mitarbeiter entlassen? Ich bin froh um alle, die noch hier arbeiten! Wie viele unserer Männer wurden einberufen, wie viele der jungen Mädchen wurden uns fortgenommen, um in der Rüstungsindustrie zu arbeiten?«

»Dessen bin ich mir bewusst, Frau Lindquist. Aber ich befürchte dennoch, dass wir bei den steigenden Lebensmittel- und Kohlepreisen Entlassungen vornehmen müssen, um das Fortbestehen der Firma zu sichern. Die Ausgaben der Firma übersteigen schon fast die Einnahmen.«

»Es herrscht Krieg, Johann. Die Leute haben kaum Geld, um sich etwas zu essen zu kaufen. Und dennoch wollen Sie Mitarbeiter entlassen?!«

»Wenn wir es nicht tun, sitzen bald alle auf der Straße und hungern. Das kann nicht in Ihrem Sinne sein!« Dunkle Schatten lagen unter Johanns Augen.

»Diese Leute, die Sie entlassen wollen, haben vielleicht Familie, Johann.«

»Ich weiß …«, sagte er. »Ich fühle mich ehrlich schlecht, da ich Sie um diese Maßnahme bitte. Aber, wie gesagt, am Ende verlieren wir alle unsere Arbeit, und dann kann niemand mehr seine Familie versorgen. Ich bitte Sie, seien Sie vernünftig.«

»Ich kann niemanden entlassen, Johann«, wisperte Elisa. »Nicht in diesen Zeiten. Wer wäre ich?«

Da verdunkelten sich Johanns Augen. »Sie sind eine Frau und damit zu weich für die Position, die Sie innehaben. Ihr Vater hätte das Richtige getan.«

Johanns Worte trafen Elisa wie ein Pfeil in die Brust. Ehe sie ihre Sprache wiederfand, fiel die Tür bereits hinter dem alten Vorarbeiter zu. Sie zitterte. Das, was Johann gesagt hatte, war unerhört! Doch hatte er am Ende recht? Was würde Louis an ihrer Stelle tun?

»Louis, ich brauche dich hier …«, sagte sie leise. »Komm zu mir zurück …«

Als Elisa in dieser Nacht im Bett lag, sah sie Louis. Er war ihr zugewandt, ihr Blick hielt sich an seinem fest.

»Sag mir, was ich tun soll …«, flüsterte Elisa.

Louis strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Ein kleines Lächeln huschte über seine Lippen. »Du brauchst mich nicht, Elisa … Du schaffst das auch ohne mich.«

Da löste er sich auf, und sie spürte, dass sie allein war.

Eine Woche später fällte Elisa einen Entschluss, der sich anfühlte, als würde sie sich selbst das Herz herausreißen. Sie hatte vor, die Produktion der Lust auf mehr?-Tafeln einzustellen. Tränen traten in ihre Augen, als sie daran zurückdachte, wie Louis und sie mitten in der Nacht in Florences Küche Schokolade geschmolzen und mit verschiedenen Aromen und Gewürzen gemischt hatten. Zutaten wie Ingwer oder Chili waren nicht erhältlich, solange Krieg herrschte, und Johann hatte recht: Die Von Treue GmbH musste Sparmaßnahmen treffen. Es gab keine andere Möglichkeit.

Es war bereits nach elf Uhr abends und das Fabrikgelände stockdunkel. Gerade als Elisa sich ein Taxi rufen wollte, fiel ihr auf, dass aus einer der beiden Lagerhallen ein schwaches Licht drang. Offenbar hatte jemand eine der Lampen brennen lassen. Doch als Elisa vor dem großen Tor der Halle stand, sah sie, dass auch das Schloss nicht abgesperrt war. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. War ein Einbrecher im Lager? Sollte sie die Polizei rufen? Aber würde das nicht viel zu lange dauern?

Vorsichtig, um kein Geräusch zu verursachen, schob Elisa das Tor ein Stück weit auf, bis sie ihren schmalen Körper ins Innere der Halle schieben konnte. Im vorderen Teil stapelten sich die mit Kakaobohnen gefüllten Leinensäcke. Doch das Licht drang aus dem durch eine dünne Wand abgetrennten Nebenraum, in dem die verkaufsfertige Schokolade gelagert wurde. Auf Zehenspitzen näherte sich Elisa diesem Teil der Halle. Adrenalin jagte durch ihren Körper. Als sie vor der Tür stand, hielt sie den Atem an. Lauschte. Nichts zu hören. Ihr Herz trommelte wie verrückt. Schließlich schob sie die Tür auf.

Alles ging blitzschnell. Sie wurde zur Seite gestoßen. Zu ihrem Glück konnte sie sich gerade noch am Regal festhalten, ehe sie stürzte. Der Dieb floh – doch er hatte seine Identität nicht vor ihr verbergen können. Elisa hatte ihn erkannt. Die Weise, wie er sein rechtes Bein leicht nachzog, hatte ihn verraten.

»Johann!«, rief sie.

Er wurde langsamer und blieb schließlich stehen. Elisa konnte sehen, wie er in sich zusammenfiel. Zwei Atemzüge lang war es still. Schließlich wandte er sich zu ihr um.

Elisas Angst war verschwunden. Mit einem Mal war sie nur noch wütend und unendlich enttäuscht. »Wie lange arbeiten Sie schon für uns, Johann? Haben wir Sie jemals schlecht behandelt? Als Dank bestehlen Sie uns?«

»Es ist wegen meiner Familie«, sagte Johann.

»Wegen Ihrer Familie?«

»Ja. Ich habe vier Kinder zu versorgen, aber es gibt kaum etwas zu essen, und das Wenige ist fast nicht bezahlbar. Die Kleinste hat morgen Geburtstag. Zwei Tafeln sollten es zur Feier des Tages sein. Den Rest hatte ich vor, auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen.« Johann senkte den Blick. »Ich bin dann wohl entlassen.«

Elisa überraschte sich selbst, als sie sagte: »Nein. Ich werde Sie nicht entlassen.«

Sprachlos sah er zu ihr auf.

»Ich verstehe Ihre Situation. Sie lieben Ihre Familie und sorgen sich um sie. Deshalb vergebe ich Ihnen. Doch natürlich darf so etwas nie wieder vorkommen.«

»Aber …«

»Überrascht Sie meine Reaktion? Mein Vater wäre wohl nicht so nachsichtig mit Ihnen gewesen, vermutlich hätte er sogar die Polizei gerufen. Aber wie Sie bereits sagten: Ich führe diese Firma auf andere Weise als mein Vater. Mag sein, dass es daran liegt, dass ich eine Frau bin. Vielleicht ist es aber auch einfach nur eine Charakterfrage. Ich finde, man darf die Menschlichkeit nie vergessen. Welche Führungsweise die richtige ist, wird sich irgendwann zeigen. Gehen Sie nach Hause und legen Sie sich schlafen. Es wird einige Veränderungen in der Schokoladenproduktion geben, darüber sprechen wir morgen.«

Am nächsten Tag bat Elisa die Mitarbeiter, sich nach Arbeitsschluss zu versammeln. Sie verkündete, dass die Produktion der Lust auf mehr-Tafeln bis auf Weiteres eingestellt werden würde.

»Um das Fortbestehen der Firma zu sichern, müssen wir sparen«, erklärte sie. »Wie ihr sicher wisst, haben einige Fabriken Mitarbeiter entlassen müssen, um zu überleben. Ich verspreche euch, dass euer Arbeitsplatz hier sicher ist, solange es die Von Treue GmbH gibt. Jedoch sehe ich mich gezwungen, euer Gehalt leicht zu kürzen, zumindest solange die Lage derart angespannt ist.«

Aufgeregtes Murmeln setzte ein.

»Sobald der Krieg vorbei ist, werden die Gehälter natürlich wieder neu verhandelt«, fuhr Elisa fort. »Es herrscht eine Notsituation. Deshalb könnt ihr jederzeit zu mir kommen, wenn ihr Unterstützung braucht. Dann werden wir gemeinsam eine Lösung finden. Wir müssen zusammenhalten, um diese Zeit zu überstehen. Ich möchte, dass ihr heute alle eine Tafel Schokolade mit nach Hause nehmt.«

Kurz war es so still wie in einer Kirche.

»Ehrlich? Wollen Sie das wirklich?«, fragte ein junges Mädchen.

»Ja, es wäre mir eine Freude«, erwiderte Elisa und deutete lächelnd auf die Schachteln, die neben ihr auf einem Tisch aufgestapelt war. Darin war die »Elisa«-Schokolade, die Louis für sie kreiert hatte. »Ich wünsche mir, dass ihr die Schokolade mit euren Liebsten genießt und wenigstens für diesen kurzen Moment den Krieg vergessen könnt.«

Während ihre Mitarbeiter ihr überschwänglich dankten, spürte Elisa Louis neben sich. Er lächelte voller Stolz und Liebe.