Kapitel 26

Louis hätte nicht gedacht, dass dies möglich war, aber am nächsten Tag sank seine Laune noch tiefer. Als er gerade auf der Terrasse stand und mit einer köstlich duftenden Tasse Kaffee der Sonne dabei zusah, wie sie sich über den Tannenspitzen erhob, brachte Magda ihm einen Brief von der Baronin Laurent. Er war sich sicher gewesen, dass die Baronin ihr Pferd bei ihm unterstellen wollte – doch er musste nur die erste Zeile lesen, um zu wissen, dass sie ihm absagte. Leider muss ich Ihnen mitteilen, dass …

Er verzichtete auf das Frühstück und machte sich sogleich zu den Stallungen auf. Die Lichtung im Wald war einer seiner Lieblingsorte, denn dort konnte Salem grasen, während er selbst einfach nur an einer Tanne lehnte und versuchte, den Kopf freizubekommen, indem er den Wolken dabei zusah, wie sie über einen perfekt blauen Himmel wanderten. Doch heute hörten seine Gedanken einfach nicht auf zu kreisen.

Prinzipiell war es ihm egal, was Elisa tat. Aber sie war seine Frau und hatte deshalb verdammt noch mal nicht das Recht, einen anderen Mann zu küssen!

Um sich abzureagieren, begann er, aus einem Stück Ast eine Holzfigur für seine beiden Nichten zu schnitzen. Doch das Taschenmesser rutschte ab und schnitt in seinen Daumen. Die Wunde fing sofort an zu bluten. Louis fluchte. Heute war einfach nicht sein Tag.

Es gab nur eines, was diesen Tag retten würde, und das war, sich in einer Kneipe ein paar Bier zu gönnen. Um acht Uhr abends klopfte er an die Tür der Wohnung, in der Hans mit seiner Familie lebte. Durch die dünnen Wände hindurch hörte er eine Frauenstimme schimpfen, kurz darauf fing ein Kind an zu weinen. Kalter, nächtlicher Ostwind pfiff durch das Loch in der Fensterscheibe und trug eine Woge des Gestanks aus der im Flur liegenden Toilette des Mietshauses zu Louis.

Er wollte sich gerade zurückziehen, da ging die Tür auf, und Hans’ Mutter stand vor ihm. Aus dunklen Höhlen heraus fixierten ihre Augen ihn. Aschfarbenes Haar hing unter ihrem Kopftuch heraus und klebte an ihren Schläfen. Ihre Hände hielten einen Eimer mit Schmutzwasser fest.

»Ist Hans da?«, fragte Louis.

Sie stellte den Eimer in den Flur und trocknete ihre vom kalten Wasser geröteten Hände an ihrer Schürze ab. Dann rief sie: »Hans! Nu komm schon!«

Ein dünnes Kinderhusten ließ Louis herumfahren. Auf den Stiegen, die ein Stockwerk höher führten, saß Thomas, der jüngste von Hans’ Brüdern. Er spielte mit dem Steiff-Teddybären, den Louis ihm geschenkt hatte. Louis hatte den Jungen gar nicht wahrgenommen, so leise war er gewesen.

»Was ist mit den Anziehsachen, die ich euch letztes Mal gebracht habe?«, fragte er Hans’ Mutter. »Das Hemd, das Thomas trägt, hat Löcher und ist außerdem viel zu dünn.«

»Von Klamotten weiß ich nix.«

»Aber …«

»Louis! Mit dir habe ich heute nicht gerechnet.« Hans küsste seine Mutter zum Abschied auf die Wange und zog Louis die Treppe hinab, wobei er über die Schulter rief: »Kann spät werden!«

Als Hans und Louis kurz darauf in die Möckernstraße einbogen, fragte Louis seinen Freund, was mit der warmen Kleidung und den Schuhen geschehen war, die Louis für Thomas gekauft hatte.

»Ich befürchte, mein Vater hat die Sachen verscherbelt«, gestand Hans.

Louis hatte es sich bereits gedacht. Das Geld, das Hans’ Vater für die Sachen bekommen hatte, war vermutlich schnurstracks in Schnaps investiert worden.

»Warum sagst du ihm nicht endlich mal, dass er ein Arschloch ist?!«

»Er ist mein Vater, Louis. Mal abgesehen davon, dass er mich halb tot prügeln würde.«

Sie schwiegen eine Weile, traten aus dem gelben Schein einer Straßenlaterne und waren dankbar für das Licht, das ihnen der Mond und die wenigen erhellten Wohnungen spendeten. Eine Ratte flitzte dicht an der Fassade der Mietskaserne entlang und verschwand in der Schwärze eines Hinterhofs.

»Was ist los mit dir?«, fragte Hans nach einer Weile.

»Nichts. Was sollte los sein?«

»Louis, wie lange kennen wir uns jetzt schon? Zehn Jahre? Elf Jahre? Jedenfalls lang genug, um sich einander anzuvertrauen.«

»Du machst dir umsonst Sorgen. Es ist alles in Ordnung. Ehrlich.«

»Das sagst du jedes Mal, und ich darf dich dann wieder völlig betrunken nach Hause schleppen.«

»Ich hatte einfach nur einen anstrengenden Tag«, wich Louis aus. »Erzähl mir doch lieber ein bisschen von deiner neuen Liebschaft.«

Das Thema schien Hans unangenehm zu sein, denn er blickte zu Boden und trat nach einem Stein auf dem Fußgängerweg. »Na ja …«

»Ist es schon wieder vorbei?«

»Nein. Das ist es nicht … Ich denke, ich werde Frieda fragen, ob sie mich heiraten will.«

»Was?!« Louis hielt inne. »Ist sie schwanger?«

»Nein.«

»Aber warum willst du sie dann heiraten?«

»Weil ich sie wirklich gern habe! Schon einmal an diese Möglichkeit gedacht?«

Sie gingen weiter, an den wartenden Kraftdroschken der Friedrichstraße vorbei, in denen die Fahrer mit müden Gesichtern dösten. Ein junges Mädel trat aus dem Schatten der Gasse hinter der Königsmauer und flüsterte ihnen warme, einladende Worte zu, und als sie nicht darauf reagierten, verschwand sie wieder.

»Durch eine Heirat wäre Frieda abgesichert und müsste nicht mehr in der Fabrik arbeiten«, meinte Hans. »Sie könnte sich eine andere, leichtere Arbeit suchen, die ihre Gesundheit weniger strapaziert. Außerdem könnte ich mir mit ihr eine eigene Wohnung suchen. Ihre Familie vermietet die Zimmer oft genug an Schlafburschen, und das macht mir Sorge. Wer weiß, wer da tagsüber in ihrem Bett schläft! Am Ende kommt sie eines Abends nach Hause und … Allein der Gedanke, dass so etwas passieren könnte, bringt mich fast um. «

Louis fühlte sich schlecht, da sein Freund offenbar das Gefühl hatte, sich ihm gegenüber rechtfertigen zu müssen. Er überholte ihn und lief rückwärts vor ihm her. »O mein Gott, du magst sie ja wirklich«, sagte er scherzhaft.

»Schön, dass du das auch endlich begreifst.« Es kam nicht oft vor, dass Hans gereizt war. »Freust du dich denn gar nicht für mich?«

Erneut blieb Louis stehen. Er legte die Hände an Hans’ Wangen, damit er ihm ins Gesicht blicken und sehen konnte, wie aufrichtig Louis seine Worte meinte. »Wenn du glücklich bist, dann freue ich mich für dich.«

»Ich bin glücklich.«

»Falls du Geld brauchst, um eine Wohnung für euch beide zu finanzieren, dann werde ich dich selbstverständlich unterstützen, das weißt du, oder?« Louis umarmte seinen Freund. »Zur Feier des Tages gehen sämtliche Getränke des Abends natürlich auf meine Kosten!«