Prolog

»Schreibe«, sprach jene Stimme,
und der Prophet antwortete: »Für wen?«

Die Stimme sprach: »Für die Toten,
für die, die du in der Vorwelt geliebt hast.«

Der Prophet fragte: »Werden sie mich lesen?«

Die Stimme antwortete:
»Ja, denn sie kommen wieder zurück
als Nachwelt.«

SØREN KIERKEGAARD

Eigentlich war es meine jüngere Cousine Zeynep, die mich auf die Idee für diesen Roman gebracht hat. Eines Nachts (es muss eine windige Märznacht gewesen sein, denn es sind ja immer solche windigen Märznächte, in denen irgendetwas Bedeutsames passiert, oder vielleicht war es auch im Sommer) klingelt mein Telefon und Zeynep ist dran. Was gibt’s?, frage ich, und sie sagt, Habibti , ich muss dir was erzählen.

Warum tust du’s nicht?, sage ich und bemühe mich, meiner Stimme einen lässigen und beiläufigen Klang zu geben, um zu verbergen, dass mir jedes Mal das Herz in die Hose rutscht, wenn jemand aus der Familie anruft. Oder eine Nummer mit einer Vorwahl aus dem Nahen Osten auf dem Display erscheint, was im Prinzip auf dasselbe hinausläuft.

Zey ruft aus Istanbul an. Ich kann den nächtlichen Verkehrslärm durchs Telefon hören. Vermutlich hat sie das Fenster offen stehen, oder sie sitzt auf dem Balkon und raucht.

Also, beginnt Zeynep und holt tief Luft. Ich hole auch tief Luft, denn die Ankündigung kann nur bedeuten, dass jemand heiratet (sehr wahrscheinlich) und ich hinfliegen soll, oder dass jemand zu Besuch kommen will, oder dass es richtig saftigen Klatsch und Tratsch gibt, den wir in den nächsten Stunden von A bis Z durchkauen werden. Wobei all das, wenn mich meine Erinnerung nicht trügt, noch nie dazu geführt hat, dass Zeynep mich anruft. Noch dazu mitten in der Nacht.

O Gott.

Ich habe etwas gefunden, sagt sie.

Eine Bombe?, frage ich. Ich weiß nicht, warum ich das sage. In meiner Familie sind wir besessen vom Krieg, so viel steht fest.

So ungefähr, sagt Zeynep. Es hat dieselbe Sprengkraft, das ist schon mal sicher.

Ein halbes Jahr später treffen Zeynep und ich uns am Hauptbahnhof von Tel Aviv. Sie ist zum ersten Mal hier, ich zum vierten. Es ist Sommer, obwohl es schon Oktober ist, und ich habe eines dieser grünen Mietfahrräder bei mir, die überall herumstehen. Wir wuchten ihren Koffer darauf und schieben das Ganze in die nächste Bar.

Zey kommt direkt vom Flughafen und strahlt dieses Gefühl von Gerade-angekommen-Sein aus. Hat alles geklappt?, frage ich. Ich meine die Einreise. Immerhin ist Zeynep Exil-Palästinenserin. Von Geburt an. Eigentlich würde diese Tatsache sie zu einer Ausgestoßenen machen, zu einer staatenlosen Person, zu jemandem, die kein Land, keine Heimat, keinen Pass und erst recht keine Perspektive ihr Eigen nennen kann. Aber Zeynep ist die Tochter eines Mannes, der vor vielen Jahren alles darangesetzt hat, eine Staatsbürgerschaft zu erwerben, und er tat dies, indem er sich jahrelang als Soldat in der Armee eines Landes verdingte, das ihm nichts weiter bot als das uneingeschränkte Aufenthaltsrecht für sich und seine Familie. Zeynep grinst und knallt ihren türkischen Reisepass auf den Tisch. Das magische Dokument. Im arabischen Teil meiner Familie ist es noch immer ein Privileg, einen Pass zu besitzen.

Die haben nicht mal gezuckt, sagt sie. Ich bin einfach durchmarschiert.

Zeynep hat knallrot gefärbte Locken, die ihr bis zum Po reichen, und trägt ein grünes T-Shirt mit Peace-Zeichen, eine lilafarbene Stoffhose mit Fransen und Elefantenprint und dazu jede Menge Silberschmuck. Sie passt in diese Stadt wie ein Pfeil in die Mitte einer Dartscheibe. Die Jungs vom israelischen Inlandsgeheimdienst, die jeden Reisenden am Flughafen Ben Gurion kontrollieren, müssen sie für die harmlose Irre gehalten haben, die sie ist.

Ich bin ein wenig neidisch, denn jedes Mal, wenn ich nach Israel einreise, werde ich von einem Sicherheitsbeamten in einen fensterlosen Raum geführt und nach allen Regeln der Kunst verhört, weil sie hier noch immer nicht glauben können, dass eine Frau mit deutsch-palästinensischen Wurzeln nach Israel reist, um in Schulen und Universitäten über Frieden zu sprechen.

Aber heute sind wir aus einem anderen Grund hier.

Hast du sie dabei?, frage ich, und Zeynep schiebt mir einen dicken Umschlag über den Tisch. Ich öffne ihn und ziehe das heraus, was Zeynep vor sechs Monaten so dramatisch angekündigt hat. Notizbücher. Sechs Stück. Chronologisch sortiert. Jede Zeile darin ist fein säuberlich beschrieben von der Hand meines Onkels Mahmoud, Zeyneps Vater.

Er ist seit vier Jahren tot, aber bevor er das Zeitliche gesegnet hat, muss er noch im Schreibwarenladen gewesen sein und sich diese Hefte gekauft haben. Warum er die vollgeschriebenen Notizbücher dann in einer Keksdose ganz hinten im Schrank versteckt hat, bleibt sein Geheimnis. Es ist ein großer Zufall, dass meine Cousine diese Hefte schließlich beim Aufräumen gefunden hat, wo sie doch normalerweise nie aufräumt. Zusammen mit den Tagebüchern meines Vaters, der auch tot ist, aber schon viel länger als Mahmoud, macht das in der Summe vierzehn Notizbücher. Die Geschichte unserer Familie, versammelt auf einem Haufen Papier. Nur dass die Tinte langsam verblasst. Scheiße, sagt Zeynep, und ich weiß, was sie meint.

Sie schlägt eines der Hefte auf und deutet auf das erste Wort. Was steht da, fragt sie. Die Frage brennt ihr seit sechs Monaten unter den Nägeln und beschreibt haargenau alles, was in unserer Familie verzwickt ist. Zeynep spricht als Tochter eines palästinensischen Vaters und einer syrischen Mutter fließend Arabisch, nur kann sie kein Arabisch lesen, weil ihre Familie in die Türkei ausgewandert ist, bevor sie überhaupt auch nur die Chance hatte, ihr Alif Ba Ta zu lernen. Ich, Tochter eines viel zu früh verstorbenen palästinensischen Vaters und einer deutschen Mutter, hatte in meinen überambitionierten Jugendjahren den dringenden Wunsch, die Sprache meines Vaters zu lernen, bin aber über besagtes Alif Ba Ta nie so recht hinausgekommen, was dazu führte, dass ich Arabisch zwar lesen, aber nur wenig verstehen und noch weniger sprechen kann. Gemeinsam bilden Zeynep und ich also eine Art linguistisches Frankensteinmonster, sind aber trotzdem aus irgendeinem Grund weniger als die Summe unserer Teile.

Ich kneife die Augen zusammen und versuche herauszufinden, was da steht.

Amsi , entziffere ich. Was heißt das?

Gestern , sagt Zeynep. Das heißt gestern .

Ich sehe schon, das hier wird schwierig.

Welcher Teufel hat mich eigentlich geritten, als ich dachte, ich könnte der Geschichte ihre verborgenen Geheimnisse entreißen? Ich hätte all dieses Spurensuchen vielleicht nie begonnen, hätte Zeynep mich damals am Telefon nicht gefragt: Wer war unsere Familie? Wie lebten sie? Warum wissen wir so wenig von ihnen?

Ich hoffte, die Sache schnell erledigen zu können, indem ich ihr antwortete, soweit ich wisse, stammten wir von einer Linie magerer armer Leute ab, Kanaaniten allesamt (was immer das bedeuten mag) mit einigen Beduinen, ein paar Phöniziern, Arabern, Römern, Türken, und unter Garantie einer Handvoll Juden als Zugabe, und dass ich unter keinen Umständen in die Bibliothek gehen könne, um über die Landbevölkerung des frühen Palästinas zu recherchieren, schon gar nicht über unsere eigene Familie, weil die es gar nicht bis in die Geschichtsbücher geschafft hätten.

Aber das reichte ihr nicht. Zeynep wollte Einzelheiten. Namen und Geschichten. Und so steckte ich meine Nase in den alten Schuhkarton voller Artefakte, den ich in meiner Wohnung aufbewahre. Mir fiel eine Gebetskette aus polierten Holzperlen in die Hände, die mein Großvater geschnitzt hat. Auf einem der Fotos erkannte ich sie wieder, er ist darauf mit einem Fez und einem gewaltigen Schnurrbart zu sehen, über seinem runden Bauch spannt sich eine Schaffellweste, und zwischen seinen Fingern baumeln die Holzperlen aufgereiht an einer Schnur. Großvater steht auf diesem Foto inmitten einer Berglandschaft, im Hintergrund erheben sich Gipfel und Zedern – vielleicht war es das Antilibanongebirge, wo dieses Bild irgendwann in den späten 1960er-Jahren aufgenommen wurde.

Als mein Vater das Land verließ, in dem er geboren wurde, und das Flugzeug bestieg, das ihn schließlich nach Deutschland und in eine bessere Zukunft bringen sollte, schrieb er in sein erstes Tagebuch: Home. Love it, change it, or leave it. – Heimat – Liebe sie, verändere sie, oder verlasse sie.

Mein Ansatz ist ein anderer, fragen Sie mich nicht warum. Ich konnte meine Heimat, das bayerische Dorf, in dem ich aufgewachsen bin, nie wirklich verlassen und muss immer wieder zurückkehren. Das ist unvermeidlich. Vielleicht, weil meine Vorfahren ihre Heimat so oft und so gewaltsam verlassen mussten, sehne ich mich umso stärker danach, meine Wurzeln tief in die Erde zu strecken und mich festzukrallen in der einzigen Heimat, die ich habe, ganz gleich wie unzulänglich sie einem auch erscheinen mag.

Doch wann immer ich mich in ein Flugzeug setze und fünf Stunden durch die Luft sause, um an irgendeinem Flughafen im Nahen Osten auszusteigen, und die schwüle, heiße Luft einatme, die nach Meer und Hitze riecht und noch nach etwas anderem, dann fühle ich mich wirklich zu Hause. Das Gefühl von Heimat überkommt mich wie ein Schock, wenn ich in Beirut aus dem Flugzeug steige und durch die klimatisierte Ankunftshalle gehe, aber es erwischt mich auch, wenn ich in Tel Aviv oder Jerusalem stehe und unter Zitronenbäumen auf den Bus warte. Ich werde dort nie leben können, aber Heimat ist es allemal.

Dabei ist es gar nicht meine Heimat, sondern die meiner Großeltern, was mich zu der Frage bringt, ob die Dinge, die die eigenen Ahnen erlebt und erlitten haben, sich auch in einem selbst eingeprägt haben, wie der Geruch nach Pfeifentabak in einem alten Ledersessel. Ein Geruch, den man noch riecht, obwohl man selbst nicht raucht.

Es ist ein wahrlich merkwürdiges Gefühl, Heimweh nach einem Land zu haben, in dem man nie zu Hause war, und noch merkwürdiger ist es, nach einem Zuhause zu suchen, das längst nicht mehr existiert.

Fast siebzig Jahre nachdem meine Großeltern ihre Heimat verlassen mussten, stehe ich also mit Zeynep im Hafen von Jaffa, und wir sehen hinaus aufs Meer, das in der Nachmittagssonne aussieht wie Orangeneis. Es ist heiß und ich habe Sand in meinen Turnschuhen, und weil Freitagnachmittag ist und bald der Sabbat beginnt, ist außer uns niemand hier. Über uns kreisen die Möwen, und ein paar alte Kähne schaukeln sanft in den Wellen und setzen Rost an.

Hier war es?, frage ich, und Zeynep sagt, hier war es.

Das ist der Hafen, von dem aus sie flohen. Dies ist der Ort, an den sie nie zurückkehrten, an den sie sich aber stets zurückwünschten, mit einer Sehnsucht, die einem das Herz sprengt.

Wie war das Leben unserer Großeltern, vor gut hundert Jahren? Wie lebten die Menschen damals? Es ist Oktober 2016, und Zeynep und ich stehen mitten in Jaffa und versuchen uns vorzustellen, wie es hier früher aussah.

Was wir brauchen, sage ich, ist ein Historiker. Was wir brauchen, gibt Zeynep zurück, ist ein Hundertjähriger!

Es ist heiß, und ich schwitze und habe Blasen an den Füßen und will eine Limonade, aber wir müssen einen Hundertjährigen suchen, und wenn es das Letzte ist, was wir im Leben tun. Am Ende finden wir unseren Greis in einem Hinterhof unter einem Tamariskenbaum. Das ist Abu Hamza, sagt Zeynep, die ihn schließlich mit der Hilfe einiger einheimischer Freunde von uns ausfindig gemacht hat. Er ist der Nachbar des Onkels eines Bekannten und zugleich der Urgroßvater einer anderen Bekannten, denn in dem Moment, in dem man in Jaffa laut sagt, dass die eigenen Großeltern achtundvierzig von hier geflohen sind, springen alle ansässigen Araber auf und setzen Himmel und Hölle in Bewegung, um einem zu helfen, das Haus seiner Großeltern zu finden. Oder das, was davon übrig ist.

Wir werden begrüßt wie zwei verlorene Kinder, und Abu Hamza erklärt sich bereit, uns alles zu erzählen, was er weiß, und das ist viel. Abu Hamza ist zweiundneunzig Jahre alt und so etwas wie das lebende Archiv der Stadt. Ich bin vielleicht taub, brüllt er uns auf Arabisch an, aber ich erinnere mich an alles, was ich je erlebt habe. Das ist gut, denn Zeynep und ich sind immer noch beschämend ahnungslos, was die Vergangenheit unserer Familie angeht, und auch mit der Geschichte kennen wir uns so gut wie gar nicht aus.

Wie zwei naive Touristinnen betrachten wir nickend Abu Hamzas Fotografien. Auf einem Bild ist der berüchtigte Großmufti von Jerusalem zu sehen, Al-Hosseini, der sich mal mit Hitler auf einen Kaffee getroffen hat, und Zeynep findet, er sieht aus wie Ryan Gosling. Wer ist Ryan Gosling, will Abu Hamza wissen, und wir sagen, ist nicht so wichtig.

Auch sonst wissen wir nicht viel, ein paar Namen, ein paar Daten, ein paar wenige Anekdoten, eben das, was die Mitglieder unserer Familie über sich und ihre Kindheit erzählt haben, und das ist nicht viel. Abu Hamza hilft uns auf die Sprünge. Er kramt in seiner Erinnerung und findet Bilder, Gesichter, Gerüche.

An diesem Nachmittag im Oktober lässt er für uns die Vergangenheit lebendig werden.

Erst spät am Abend machen Zeynep und ich uns zu Fuß auf den Weg von Jaffa zurück nach Tel Aviv. Wir sind voll mit den Geschichten von Abu Hamza und todmüde. Wir lassen die Altstadt hinter uns und gehen am Strand entlang in Richtung der Wolkenkratzer von Tel Aviv. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, ein bisschen so, als ob man aus der Vergangenheit heraus- und in die Gegenwart eintritt.

Vor uns geht ein roter Vollmond auf, und hinter uns geht die Sonne unter. Sie stehen heute gleichzeitig am Himmel, einander exakt gegenüber. Überhaupt ist es eine merkwürdige Nacht: Zeynep ist hier und ich bin hier, und allein das ist eine bemerkenswerte Sache. Wir gehören nicht in diesen Staat, aber wir kommen aus diesem Land, und darüber nachzudenken, macht mich ganz wirr im Kopf.

Als wir mit wunden Füßen in Tel Aviv ankommen, bringe ich Zeynep zur Bushaltestelle, damit sie in ihr Hostel fahren kann. Die Luft ist mild, aber es riecht nach Gewitter, und in der nächsten Sekunde fällt uns der Himmel auf den Kopf. Wir rennen unter ein Vordach, um nicht bis auf die Knochen nass zu werden, und da kommt eine alte israelische Dame angetrabt, der wir höflich Platz machen. Sie breitet einen gewaltigen Regenschirm aus und lädt uns mit einer Geste darunter ein. Die Frau (sie muss mindestens neunzig sein) muss gespürt haben, dass wir nicht von hier sind, denn sie spricht uns höflich auf Englisch an: Where are you from?

Zeynep antwortet: Turkey . Ich sage: Germany . Wir schweigen. Dann platzt es aus Zeynep heraus: But in fact, we are Palestinians. Just to be honest.

Palestinians , wiederholt die Frau nachdenklich. Dann streicht sie Zeynep sanft über den Arm. Welcome home, darling , sagt sie. Welcome home.