Die Welt breitete sich unter ihnen aus wie der prunkvollste Teppich, der je gewebt worden war.
Frith hielt sich so gut wie möglich an dem Greifen fest, hatte mit einer Hand die seltsame Mischung aus Fell und Federn gepackt, die andere vorsichtig um Wydrins Hüfte gelegt. Unterhalb seiner Füße könnte er grüne Täler mit silbernen Flüssen sehen, quadratische Getreidefelder, die wie Edelmetall strahlten, dazu Wälder, die so tief grün waren, dass sie fast schwarz wirkten. Sie flogen über die Ländereien von Litvania, inzwischen so weit im Norden, dass sich die Wälder immer wieder lichteten und große Landstriche offen waren.
Wydrin sagte etwas, doch der Wind und der donnernde Flügelschlag des Greifen trugen ihre Worte davon. Frith senkte den Kopf, sodass sein Ohr näher an ihrem Gesicht war. »Was?«
»Die Vögel können nicht mit uns mithalten!«
Frith sah, dass sie recht hatte. Weiße und graue Möwen flogen unter ihnen durch die aufgewirbelte Luft. Vor ihnen sahen sie Sebastian und Ip auf einem Greifen, und links von ihnen flog Gallo allein, hatte den Blick auf den fernen Horizont gerichtet. Nur ihn schien diese Reiseart nicht zu beeindrucken.
»Das ist starke Magie«, murmelte er. Es wirkte auf ihn, als würde sich die Luft selbst vor ihnen teilen.
Wydrin beugte sich vor, deutete zu einigen Hügeln in der Ferne. Sie hatten die hellblaue Farbe der Dämmerung, und einer hatte eine große, menschenähnliche Form. Die Sonne brach über ihnen durch die Wolken, und die raue Kreide wurde angestrahlt, hob sich weiß vor dem blauen Himmel ab.
»Was ist das?«, rief sie.
»Der König des Niederen«, antwortete. »Kannst du aufhören, dich zu bewegen?«
»König des was?« Wydrin drehte sich halb herum, um ihn anschauen zu können, drückte ihr Schulterblatt in seine Brust. Ihr Haar wirbelte auf ihrem Kopf herum, wurde vom Wind in jede Richtung geweht.
»Des Niederen.« Als sie ihn mit gerunzelter Stirn ansah, seufzte er und beugte sich vor, um ihr direkt ins Ohr sprechen zu können. »Es gibt Legenden über ein Königreich unterhalb der Hügel, in dem ein langlebiges Volk existiert, das manchmal die Unachtsamen zu sich holt.« Er holte Luft. »Die Bewohner dieses Landes haben das Abbild in die Kreide gehauen, weil sie hoffen, so den König davon abzuhalten, ihre Kinder zu holen.«
»Hat es funktioniert?«
Frith runzelte die Stirn. Wydrin verlagerte das Gewicht, drückte sich gegen ihn, um besseren Halt im Nacken des Greifen zu bekommen. So nah bei ihr zu sitzen, während sie sich festklammerten, um nicht zu Tode zu stürzen, war sehr unbequem. Er fühlte ihre Wärme und roch das Leder, das sie trug. »Ich weiß nicht. Kannst du stillhalten? Wenn das so weitergeht, stürzen wir beide ab.«
»Ich liebe solche Geschichten«, sagte Wydrin. »Könige unter den Hügeln, Magie im Boden.« Sie schwieg einen Augenblick lang. »Aber es ist weniger unterhaltsam, wenn man selbst betroffen ist.«
Sie flogen einige Stunden lang, durch Wolken, deren Feuchtigkeit sie bis auf die Knochen durchnässte, dann durch strahlenden Sonnenschein, der die Nässe wieder wegbrannte. Unter ihnen bewegte sich das Land wie ein schnell fließender Fluss, und Frith musste zugeben, dass es außergewöhnlich war, Litvania unter sich derart überblicken zu können. Es gab Orte, die er nie zuvor gesehen hatte, die teils im Schatten, teils im Sonnenlicht unter ihm vorbeizogen, alle Geheimnisse des Landes unter ihm ausgebreitet. Sein Vater wäre von so einem Anblick verzaubert gewesen.
Die Sonne begann im Westen unterzugehen, verwandelte den Rand des Himmels in einen Regenbogen aus Violett, Rosa und Indigo. Sterne erschienen, zunächst nur ein paar, dann ein ganzes funkelndes Band, das wie Tautropfen auf einem Spinnennetz strahlte. Frith war so davon eingenommen, diesen Übergang des Himmels über sich zu beobachten, dass es schon dunkel war, als Wydrin ihm wieder einen Ellenbogenstoß verpasste.
»Ich weiß ja nicht, wie es dir geht, aber ich fliege nicht so gern in diesem Licht.« Der Wind hatte stark nachgelassen, aber trotzdem musste sie brüllen. »Zum einen scheint der Boden weiter weg zu sein.« Bevor er sich zurückhalten konnte, sah Frith an der Spitze des Greifenflügels vorbei. Die Decke der Bäume unter ihnen war nur noch eine schwarze Masse. Es war, als blickte er in eine tiefe Höhle. »Zum anderen bringt mein Hintern mich um«, führte sie weiter aus. »Wollen wir nachts eine Rast einlegen?«
Der Gedanke, die Greifen zwischen den hohen Bäumen landen zu lassen, gefiel Frith nicht sonderlich. »Wo? Es ist kein Platz.«
»Schau.« Wydrin deutete nach Nordosten, wo man jenseits der Bäume noch eine Ebene erkennen konnte, die an einen großen See grenzte. Das Wasser war silbern und schwarz, und an der Küste waren einige helle weiße Lichtpunkte zu erkennen. Einen verwirrten Moment lang dachte Frith, es sei die Reflexion der Sterne im See, aber sie waren zu hell und zu nah. »Dort müssen Leute sein.«
»Ja«, sagte Frith. »Es werden Cherolia sein, fahrendes Volk«. Sie schlagen ihre Zelte in Litvania, Pathania und Istria auf und ziehen weiter, wenn das Wetter schlecht wird.«
»Nehmen sie Reisende auf?«
Frith begann, mit den Schultern zu zucken, ließ es aber wieder sein. »Sie verkaufen alle möglichen Sachen, auch Unterkunft. Ich bin sicher, dass wir dort einkehren können.«
Wydrin drehte sich herum und begann, den Greifen hinter sich zu winken, rutschte dabei gefährlich auf eine Seite. Frith zog eine Grimasse und legte eine Hand auf ihre Hüfte, um sie zu stabilisieren.
»Wir landen!«, rief sie. »Folgt uns!«
Sie flogen im Schutz der Bäume zum Boden, und sehr zu Sebastians Schrecken verwandelten sich die Vögel zu ihrer normalen Größe. Dann näherten sie sich langsam und vorsichtig der Ansiedlung, gespannt, was sie finden würden, doch die Ansammlung aus Zelten und Leuten war lebhaft und angenehm. Die Cherolia waren alle große Leute mit kupferfarbener Haut und lockigem braunem Haar, aber es waren auch viele Einheimische hier, die an Ständen einkauften, an denen es viele Waren vom ganzen Kontinent gab. Es war eine reisende Stadt mit bunten Zelten, und schon bald fanden sie jemanden, der ihnen welche für die Nacht vermietete.
»Seid bereit, bei Sonnenaufgang weiterzureisen«, sagte Frith, als er das Tuch vom Eingang seines Zelts zog. Die drei schwarzen Vögel landeten darauf. »Ich werde nicht auf euch warten.«
Gallo und Ip kletterten schon in ihre eigenen Quartiere, und das Mädchen gähnte so sehr, dass ihr der Kopf abzufallen drohte. Sebastian sah mit runtergezogenen Mundwinkeln zum schmalen Eingang seines eigenen Zelts. »Ich werde darin nicht gut schlafen können.«
»Denk dran, erst die Rüstung abzulegen«, sagte Wydrin. »Das könnte helfen.« Im strahlend weißen Licht der Lampen wirkte Sebastians Rüstung besonders schön. Die goldene Ziselierung glitzerte wie die Schuppen eines exotischen Fischs. Es war das erste Mal, dass sie genauer hinschaute, und sie kam ihr vertraut vor. »Woher hast du die?«
Sebastian strich sich über den Bart und wich ihrem Blick aus. »Sie hat den Rittern von Ynnsmouth gehört.« Er räusperte sich. »Ich habe sie … nun, vor dem Angriff erhalten.«
»Sie haben dir das gegeben?« Wydrin lehnte sich an eine Zeltstange und kreuzte die Arme vor der Brust. Einer der Vorteile, ein erstklassiger Lügner zu sein, bestand darin, diejenigen zu durchschauen, die diese Kunst nicht so gut beherrschten. »Soweit ich mich erinnern kann, waren deine Beziehungen zum Orden nicht so gut.«
»Vielleicht waren sie verzweifelt genug, dass sie mich an ihrer Seite haben wollten.« Sebastian begann, die Riemen zu lösen, die die Brustplatte hielten. »Gebracht hat es ihnen nichts.«
»Brauchst du Hilfe, um aus dem Ding rauszukommen?«
»Das schaffe ich schon.« Damit ging er in die Hocke und verschwand in seinem Zelt.
Wydrin seufzte. Sie sah zu den Vögeln hoch, die sie mit schwarzen, flüssig wirkenden Augen beobachteten. »Und ihr könnt auch diesen Blick aus euren Schnabelgesichtern wischen.«
Das Zelt war klein und gemütlich. Auf dem Boden lagen viele Decken, die nur wenig nach Pferd rochen, und lange Fäden mit Gebetsperlen hingen herunter. Eine kleine runde Lampe stand auf einem Holzblock in einer Ecke, und das war das einzige Möbelstück in dem winzigen Gemach. Wydrin legte ihr eigenes Leder ab und bemerkte dabei, dass das Licht aus den benachbarten Zelten weiche Schatten auf die Stoffwände warf. Sie konnte den Umriss von Frith erkennen, der offenbar dasaß und die Karte auf seinen Knien ausgebreitet hatte, und auf der anderen Seite war Sebastians großer Umriss zu erkennen, wie er sich hinlegte und zum Schlafen bereitmachte. Es war eine seltsame Bleibe, dachte sie, wo Privatheit nur durch dünne, rote Seide hergestellt wurde.
Sie schlüpfte unter die Decken und starrte zu den Gebetsperlen hoch. Sie waren so geschnitzt, dass sie Tiere abbildeten – einen Fuchs, eine Kuh, einen Bären, einen Vogel. Eine war ein Hai, also streckte sie die Finger aus und berührte die Perle. Schließlich hatte sie in letzter Zeit nichts getan, um Liebe von den Grazien zu erhalten, und sie brauchte alles Glück, das sie bekommen konnte.