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Frith grub seine Finger tief in die Federn des Greifen und trieb die Kreatur an. Wydrin und er flogen nun in einer grässlichen Geschwindigkeit, versuchten mit den dauernden Bewegungen des Drachen mitzuhalten. Der Boden zog wie ein Schlieren vorbei, zu schnell, um mehr als nur einen vagen Eindruck der kämpfenden Männer und Frauen zu bekommen.

Wydrin war vorne, saß mit gebeugtem Rücken auf dem Greifen, mit dem Schwert in einer Hand. Der Drache kreiste immer noch über dem Westtor, und noch hatte er sie nicht bemerkt. Sein Kopf war nach unten gerichtet, er schaute mit riesigen gelben Augen zur Schlacht unter sich. Aus dieser Nähe konnte Frith die glitzernde Perfektion jedes Schuppens erkennen, die feuchte Präzision der Zähne, die unfassbare Größe und das Gewicht der Kreatur. Sein Magen zog sich mit einer tiefen, angeborenen Angst zusammen – ich bin klein und werde gejagt –, doch er empfand auch ein schwindelerregendes Gefühl von Unwirklichkeit. Eine derart große Kreatur sollte nicht mit so viel Anmut fliegen können – sie sollte gar nicht existieren. Er hatte einen Schatten dieses Gefühls schon einmal erlebt, als Jolnir seine Maske abgenommen und das Gesicht eines Gotts darunter enthüllt hatte. Die Welt, die er kannte, war gekippt, wie ein Boot im Sturm, und ihm wurde gezeigt, was für Dinge an ihrer Unterseite krabbelten, die er nicht verstand.

Der Drache schnappte mit seinem Kiefer, und Flammen glitten über die Menge unter ihnen. Der Gestank von Schwefel und verschmortem Fleisch stieg ihm in die Nase.

»Es ist so weit«, rief Wydrin von weiter vorne. »Mach dich bereit, deinen Hintern durch die Luft zu scheuchen, Prinzlein!«

Einen kurzen Augenblick dachte er, dass sie ihre Waffen hätten ändern sollen. Wydrin trug immer noch Glasherz, aber ein Speer wäre sinnvoller gewesen, natürlich. Da drückte sie ihre Knie in die Seite des Greifen und stürzte wie ein Stein hinab.

Er konnte sie etwas rufen hören, die Worte aber nicht verstehen. Einige schreckliche Sekunden lang dachte er, sie hätte sich verschätzt und würde mit voller Wucht in das riesige Biest rasen, doch im letzten Moment zog sie hoch, direkt hinter der Ansammlung von Hörnern, die auf Y’Ruens Kopf wuchsen. Wydrin beugte sich runter, hielt sich mit einer Hand an den schwarzen Federn des Greifen fest, und schnitt mit Glasherz quer über den Nacken des Drachen. Die Klinge kratzte wirkungslos über die Schuppen, aber Y’Ruen stieß einen überraschten Ton aus und warf ihren Kopf herum.

In diesem Augenblick war alles fast verloren. Der große Kopf schoss wie der einer Kobra nach vorn, und Frith hörte Wydrin sehr laut und deutlich fluchen, doch der Drache verfehlte knapp, die Zähne schnappten in die leere Luft.

Es war so weit. Frith rief die Worte für Eis und Kontrolle, und das Edanier schoss aus seinen Händen, knisternd vor Energie. Zwei, drei Sphären aus Eis krachten gegen die Seiten von Y’Ruens Kiefer, und Frith schätzte, dass es ihr mindestens Zahnschmerz bescheren sollte, denn sie drehte sich und sah ihn mit hasserfüllten, gelben Augen an. Die gewaltigen Schwingen, die denen von Fledermäusen ähnelten, schlugen einmal, und sie war bei ihnen in der Luft. Frith klammerte sich am Rücken des Greifen fest, als der Wind ihn wegzureißen drohte. Es war schon gefährlich, in den Aufwind des Monsters zu geraten.

»Wir haben ihre Aufmerksamkeit! Bewegung!« Wydrin flog auf ihn zu, und unglaublicherweise lachte sie dabei irre.

Und sie hatte recht.

Y’Ruen hatte sich von der brennenden Stadt unter sich abgewandt und kam hinter ihnen her.

Frith lenkte den Greifen mit seinen Fersen nach Süden. Als derjenige, der sich die Karten eingeprägt hatte, musste er sie nach Relios und noch weiter lenken, was bedeutete, den Blick die meiste Zeit nach vorne zu richten. Sofort fühlte er Gänsehaut, als er sich vorstellte, wie der Tod seinen ungeschützten Rücken in Augenschein nahm.

Er sah über die Schulter und erblickte Wydrin, die den Drachen umkreiste wie eine Biene ihr Nest. Immer wieder schoss der Kopf des Drachen in ihre Richtung, mit langen gelben Zähnen und einer schwarzen Zunge, doch Wydrin wich aus, als hätte sie schon ihr ganzes Leben lang Greifen geflogen. Gelegentlich flog sie dicht heran und kratzt mit dem Schwert den riesigen Körper des Drachen entlang, wie eine Biene mit ihrem Stachel. Und immerzu bewegte sie sich vorwärts, zog die Kreatur mit sich. Die Stadt Bannwacht blieb hinter ihnen zurück.

Aber nur ein Fehler war nötig, und Wydrin würde in Stücke gerissen und ihre Eingeweide im Himmel verteilt.

Frith lehnte sich auf seinem Greifen zurück, ignorierte die beängstigende Tiefe unter sich und schleuderte eine Welle Gewalt hinter sich, einen knisternder Vorhang aus lila Licht. Es traf den Drachen direkt im Gesicht, und wieder erhob sich sein ohrenbetäubendes Gebrüll.

Wydrin lachte wieder auf, erfreute sich an Y’Ruens Zorn. Aber Frith konnte fühlen, wie der Drache nun seine Aufmerksamkeit auf ihn richtete, wie ein starker Druck auf seinen Hinterkopf. Er nahm ihren Geist wahr, der seinen bedrängte – neugierig und suchend.

Ich habe ihre Aufmerksamkeit, dachte er, und sein Mund war trocken wie Staub. Sie sieht einen Magier. Und die letzten Magier, die sie getroffen hat, waren diejenigen, die sie in die Zitadelle eingesperrt haben.

Verflucht.

Es war ein hektischer Flug nach Relios.

Der Himmel war vom Zorn des Drachen erfüllt, und die Greifen flogen in Wellen, mussten manchmal panisch ausweichen. Mehr als einmal fühlte Frith die Hitze des Feuers so stark, dass seine Haarspitzen zu kokeln begannen, und ab und an musste er auf Federn am Greifen schlagen, die sich entzündeten. Er tat sein Bestes, Wydrin aus dem Augenwinkel zu beobachten, schleuderte Eis und Blitze, wann immer er konnte, damit der Drache sich immer zwischen zwei Zielen entscheiden musste.

Vielleicht war es die Neugier des Gotts, die sie rettete, oder vielleicht war sie es leid, Ziele auf dem Boden zu verfolgen. Schließlich veränderte sich die Landschaft unter ihnen vom kühlen Gras in Ynnsmouth zu der rötlichen Erde von Relios, und sie sahen Zeichen, dass der Drache schon an diesen Orten gewesen war: schwarze Streifen, die einmal Dörfer gewesen waren, und Matschgebiete, die die Füße der Brutarmee zurückgelassen hatten.

Als sie die Ruinen von Gostarae in der Ferne sahen, fühlte Frith ein Zittern der Erleichterung in der Magengegend. Unter dem Haufen alter grauer Steine war ein Geflecht von Tunneln, die, wenn man sie von oben betrachtete, das Wort für Stille ergaben. Zumindest, wenn man den Informationen glauben wollte, die O’rin hinterlassen hatte.

»Da ist es«, rief er zu Wydrin. Sie winkte zustimmend und tauchte zu einer Seite weg, um einem Angriff des Drachen auszuweichen.

Die Ruinen waren unter ihnen. Das Edanier wogte in Friths Brust, als fühlte es, was gleich passieren würde. Y’Ruen flog weiter, überquerte die Steine unter sich fast, aber Wydrin schraubte sich wieder zu den Wolken hinauf, und der Drache folgte. Also jetzt oder nie.

Frith rief das Wort für Stille in seinen Gedanken auf, stellte es sich so deutlich vor, wie er konnte. Der entsprechende Verband an seiner rechten Hand wurde kühl, dann noch kälter, so kalt, dass es schmerzhaft wurde. Ein Band aus Licht schoss aus seinen Fingerspitzen, hell wie ein Blitz, jagte zu Boden, schneller, als das Auge folgen konnte. Ein Wummern erfasste seinen Magen, und seine Arme und Beine wurden taub, als der Zauber all seine Kraft abzog. Das könnte es sein, glaube ich, dachte Frith und schaute zu den Ruinen unter sich. Über ihm hingen Wydrin und der Drache in der Luft und …

»Es geschieht nichts!«, rief er aus, in dem Wissen, dass Wydrin ihn nicht hören konnte. »Nichts …«

… Tief in der roten Erde floss ein blasses, geisterhaftes Licht über die Gesichter, die in die Wände geritzt waren, silbern und gottesfürchtig. Eines nach dem anderen öffnete Augen und Münder, und ein Ruf ertönte …

Frith sah das Wort kurz, wie es unter ihm in Licht geschrieben wurde, als wäre es nur in seinen Gedanken, dann schoss Licht in den Himmel, so grell, dass es fast körperliche Form hatte, an ihnen vorbei wie Säulen aus unmöglichem Marmor. Der Greif stieß einen hohen und panischen Schrei aus, und Frith hatte Mühe, sich festhalten zu können und nicht abgeworfen zu werden. Er schaute über sich, war noch halb blind, musste aber sehen, wie die Lichtsäulen hochstiegen, in den Drachen fuhren und das Monster von innen erleuchten zu schienen. Einen winzigen Augenblick lang glaubte er, die Knochen sehen zu können, die mit lila Licht erfüllt waren, und ein Schrei ertönte, der so laut war, als brülle die ganze Welt voller Schmerz auf.

Und dann erlosch das Licht.

Wydrin kam zu ihm geflogen, und über ihnen wand sich der Drache wie ein Nest voll Nattern.

»Mach dich bereit zum Fliegen, Frith«, sagte sie und blinzelte wütend. »Ich glaube, jetzt haben wir ihn richtig sauer gemacht.«