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Otto folgte Konnie Richtung Autobahn. Auf der Schnellstraße war nichts los. Sie überholten ein paar Lkw und zwei Trabant, die sich an die Verkehrsregeln hielten. Auch die Brücke über die Saale war fast leer. Er hätte gern mehr erfahren über den Fall, genauso darüber, ob die anderen auch schon unterwegs waren. Oder vielleicht schon vor Ort. Das wäre blöd, schließlich war er der Einzige der Morduntersuchungskommission, der in Jena wohnte. Ausgerechnet er kam dann zu spät zum Ersten Angriff. Vor allem hätte er gern gewusst, wie lange Konnie schon auf ihn gewartet hatte.
Der bog in das Neubaugebiet von Winzerla ein. Vor einem sechsstöckigen Bau standen ein paar Schutzpolizisten und glotzten auf die Neugierigen und Hausbewohner, die sich in gebührendem Abstand versammelt hatten. Fünf plus eins nannten sie diese Art zu bauen, um sich die Aufzüge zu sparen.
Den beigen Wartburg, der nahe der Haustür stand, erkannte er. Das Einsatzfahrzeug der MUK hatte es also schon aus Gera hierhin geschafft. Konnie und er waren die Letzten der Gruppe. Otto parkte seinen Lada ein paar Meter abseits auf einem Grünstreifen. Bevor er die Tür des Wagens schloss, starrte er auf das Haus. Irgendwo hier in der Nähe war er mit Birgit und den Kindern schon mal gewesen. Wen hatten sie da noch besucht? Eine Kollegin seiner Frau. Er erinnerte sich an die Wohnungen. Besser geschnitten als ihre eigene, etwas mehr Licht, größere Küche. Aber sie hatten ja ihre in Lobeda noch nicht so lange. Und die hatten sie auch an der langen Liste vorbei gekriegt. Noch einer der Vorteile, wenn man Polizist war. Auf was Besseres brauchten sie gar nicht erst zu hoffen.
Rolf saß auf dem Treppenabsatz im ersten Stock, beige Windjacke, Hornbrille fast auf der Nasenspitze, breitbeinig, die Hände auf den Knien. Die Zigarette in seinem Mund qualmte, die Asche fiel auf eine Treppenstufe. Als er Otto und Konnie erblickte, zog er und inhalierte, ohne die Zigarette aus dem Mund zu nehmen. Er grüßte nicht. Rolf grüßte nie. Der Scheitel des braunen Haares war so genau gezogen wie immer. Der geriet nur durcheinander, wenn er jemandem die Fresse polierte.
Ganz kurz zögerte Otto, suchte nach einer kleinen verbalen Provokation, aber Konnie drängte ihn von hinten weiter.
Zwischen dem ersten und zweiten Stock war es. Da lag eine Decke über dem Körper. Keine schmale Frau, das sah man auch so. Eine Brille auf dem Boden, nicht verdeckt, eines der Gläser hatte einen Sprung. An der Wand unter dem Fenster waren ein paar Blutspritzer zu sehen. Ein Schutzpolizist, den Otto nicht kannte, stand auf der Treppe darüber und wachte über den Leichnam.
Vor der Wohnungstür wartete Ilja, ein junger Schutzpolizist, mit dem Otto schon zu tun gehabt hatte, und nickte ehrfurchtsvoll. Auf der Klingel stand Radunek. Die Stimmen von Günter und Heinz waren aus der Wohnung zu hören.
«Ehrlich, was für eine Schweinerei.» Günters Bass.
«Das kannst du laut sagen.» Heinz’ glockenhelle Stimme dagegen. «Wenn das stimmt, was die Nachbarin gesagt hat …»
Die beiden drehten sich um, als Otto und Konnie in die Küche traten. Günters riesengroße Gestalt im abgetragenen blauen Anzug. Leicht gekrümmt, als würde er gerade unter einem Türsturz hindurchgehen, Schnitte an den Wangen vom nachlässigen Rasieren. Er hatte die Hände so tief in den Hosentaschen versenkt, wie es eben ging. Gerade einmal zehn Haare waren sorgfältig über die Halbglatze gezogen. Otto hatte sich schon oft vorgenommen, ihm zu sagen, wie scheiße das aussah.
Heinz ging auf und ab. In geschlossenen Räumen machte er das oft. Otto tippte darauf, dass er es sich bei Verhören angewöhnt hatte. Inzwischen machte es sie alle nervös, nicht nur die Verdächtigen. Er war der Erfahrenste der Gruppe und ihr Leiter, was man ihm nicht ansah. Weder wirkte er wie 55 in seinem zu weiten schwarzen Anzug noch wie ein Dauertrinker. Sie wussten es alle besser. Erst im letzten Jahr hatte sich oberhalb des Gürtels eine kleine Wampe entwickelt. Er zog sie ein, als er Ottos Blick bemerkte.
«Schön, dass wir uns darauf verlassen können, dass der Genosse Castorp immer erst dann beim Ersten Angriff erscheint, wenn die Arbeit schon getan ist.» Heinz zeigte auf die Wohnungstür hinter den Neuankömmlingen. «Selbst wenn es mitten in Jena geschieht. Tatortsicherung und -besichtigung liegen hinter uns.» Er wies auf den Kollegen. «Günter hat mit der Tatortuntersuchung bereits begonnen.»
Otto betrachtete den Küchentisch, auf dem eine Schüssel mit Salat und eine mit Kartoffeln standen. Das zweite Gedeck auf dem Tisch war unbenutzt. Er wunderte sich. Warum gab es kein Fleisch?
«Das war der Ehemann.» Konnie beugte sich herab und betrachtete eine Kartoffel, die neben einem der Stühle lag. «Er hat gesehen, dass es keinen Braten gibt. Da ist er ausgerastet.» Er stand wieder auf und blickte in die Runde. Niemand lachte.
«Eine Nachbarin von oben hat gesehen, wie es passiert ist.» Günter fixierte Heinz.
«Ja», übernahm der. «Sie ist von oben gekommen und hat gesehen, wie Radunek seine Frau die Treppe hinabgestoßen hat.»
«Die Treppe runter?», fragte Konnie. «Wie sind sie vom Mittagstisch denn dahin gekommen?»
«Die Treppe runter.» Heinz hob kurz die Augenbrauen. «Und weil sie jetzt tot ist, sind wir hier.»
Otto versuchte, sich die Szene vorzustellen. Es fiel ihm schwer. «Und er hat das mit Absicht gemacht?», fragte er.
«Mit beiden Händen.» Günter hielt seine eigenen Hände nach vorn, als wolle er Radunek kopieren. «Wenn die Frau nicht damit rechnet, dann ist sie auf den Kopf gefallen. Und genau so sieht es aus.»
Heinz stand am Fenster. «Sie wird jetzt abgeholt», sagte er.
«Wo ist denn der Ehemann von Frau Radunek?», fragte Otto. Er guckte auf das zweite Gedeck. Das Messer lag genau senkrecht zur Tischkante, die Gabel nicht ganz.
«Mit seinem Wartburg verschwunden, Baujahr 1972.» Heinz folgte mit seinem Blick irgendetwas, das draußen geschah. «Er ist im letzten Jahr zweimal mit Alkohol am Steuer aufgefallen.»
«Und verwarnt worden», sagte Günter.
«Wo sind die Kinder?», fragte Konnie, der in der Küchentür stand. «Da sind drei Betten.»
«Die suchen wir gerade», sagte Heinz.
«Mich interessiert viel mehr, wo der Radunek ist», sagte Otto.
«Die Nachbarin, Frau Vogel heißt sie», Heinz zeigte nach oben, «hat gesehen, wie er weggefahren ist. Allein. Ohne die Kinder.»
«Und der Radunek hat das mitgekriegt, das mit dieser Frau Vogel?», fragte Konnie.
«Er ist einfach weggefahren», sagte Günter. «Klingt komisch, ich weiß. Und sie sagt, dass er oft im Feldeck ist.»
«Das ist ja mitten in Jena.» Konnie schüttelte den Kopf. «Ein Bier kriegt er doch bestimmt auch hier in der Gegend.»
«Wir müssen uns aufteilen», sagte Heinz. «Ihr fahrt zum Feldeck und schaut euch da mal um. Und wir befragen die Leute im Haus. Und vor allem suchen wir die Kinder. Rolf hat schon damit begonnen.»
«Klar», sagte Otto. Er hatte eben genau gesehen, wie konzentriert Rolf nach den Kindern suchte.