7 | MO 3.10.1983
Otto stellte den Lada auf dem Parkplatz vor dem Polizeipräsidium in Gera ab. Das Wochenende war nicht so frei gewesen, wie er gehofft hatte, und auf die Woche, die jetzt begann, verspürte er gar keine Lust. Heute würden sie den Fall Radunek abschließen, und dann würde er sich bis zum nächsten Wochenende ducken.
Eine Minute noch im Auto, sagte er sich und unterdrückte ein Gähnen, bevor er den letzten Zug der Zigarette nahm. Als er neben sich Rolf anhalten sah, stieg er doch aus.
«Na, die Nacht zum Tage gemacht?», fragte Rolf, als er seinen Wartburg abschloss. Sein nach oben gezogener Mundwinkel deutete an, was er meinte.
«Deine Frau ist noch ganz ansehnlich trotz der drei Kinder, oder?» Er strich sein Haar glatt und wandte sich zum Eingang. Otto folgte ihm wortlos.
«Hey», hörten sie Konnie rufen. Er kam mit langen Schritten auf die Tür zu. «Habt ihr schon gehört?»
Otto und Rolf blieben auf den Stufen stehen, die zur Tür hoch führten. «Was?» Rolf schüttelte den Kopf.
«Radunek ist tot.» Konnie war etwas außer Atem.
Otto merkte, dass ihm übel wurde. «Wie das?»
«Hat sich erhängt.»
«So etwas darf es nicht geben.» Rolf ging durch die Tür. «So etwas darf wirklich nicht passieren», sagte er noch einmal. Dann ging er mit schnellen Schritten hinein.
«Wann?», fragte Otto.
«Irgendwann in der Nacht», sagte Konnie. «Er war schon kalt, als sie morgens nachgesehen haben.»
«Auf so einen muss man doch aufpassen.»
«Komm», sagte Konnie und legte Otto kurz eine Hand auf die Schulter. Er ging vor ins Gebäude hinein.
Otto folgte ihm langsam. «Renate und ich haben uns wieder versöhnt», sagte Konnie auf der Treppe hoch zum ersten Stock. «Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin.»
«Keine Scheidung?» Otto war mit seinen Gedanken mehr bei Radunek als bei Renate, Konnies Frau.
«Keine Scheidung.»
«Gut», sagte Otto. Konnie war auf der obersten Stufe stehen geblieben. «Das hätte ich auch nicht sehen wollen. Ich meine … Sie hätten dich versetzt. Du weißt, sie mögen so was nicht. Die Familie ist die kleinste Zelle der Gesellschaft.»
«Ja.» Konnie atmete tief ein und aus und wartete oben auf der Treppe. Als Otto neben ihm ankam, sah er Rolf und Günter im Flur vor Heinz’ offener Bürotür. Im Tageslicht, das durch die Tür fiel, konnte er erkennen, dass Günter etwas erklärte. Er benutzte beide Hände, um zu unterstreichen, was die Worte allein nicht zu sagen vermochten.
«Was?», fragte Otto, als Konnie und er an der Tür ankamen.
«Der Fall ist tot», sagte Günter.
«Radunek ist tot.» Otto linste in den Raum hinein, wo Heinz telefonierte. «Und das nur, weil irgendwer nicht aufgepasst hat.»
«Er meint, dass der Fall eingestellt ist», sagte Rolf.
«Ja, klar ist der Fall eingestellt.» Otto wurde lauter, als er wollte. «Der Radunek ist tot und kann nicht mehr vor Gericht erscheinen.»
«Wir legen das als doppelten Selbstmord zu den Akten.» Günter zündete sich eine Zigarette an.
«Was?», rief Otto. «Seid ihr bescheuert?»
«Ist das Beste.» Günter.
«Für alle Beteiligten.» Rolf.
«Aber er hat’s doch zugegeben.»
«Jetzt mach dich mal nicht so dick», sagte Rolf. «Der war doch total besoffen. Und im Verhör hat er dann gar nix mehr gesagt.»
«Aber der hat doch im Feldeck nur deshalb gehockt, weil er sich ein allerletztes Bier geben wollte. Der ist so schuldig wie Kain und Abel oder wie die in der Bibel heißen.»
«Der war doch komplett weggetreten.» Günter blickte in Heinz’ Büro. Das Telefonat war beendet. Heinz stand auf und kam zur Tür.
«Aber die hat sich doch nicht selbst die Treppe runtergeworfen.» Otto wollte Günter packen und hätte es vielleicht auch getan. «Und die Nachbarin hat den Radunek ja auch gesehen.»
Aber Heinz stand schon in der Tür. «Hab ich mir gedacht, dass dir das nicht passt. Aber du musst doch so einen Fall auch mal mit klarem Kopf betrachten. Wie sollen wir das denn vermitteln? Der Genosse Radunek war ein verdienter Arbeiter und ein langjähriges Parteimitglied. Weißt du, wie das nach außen wirkt?»
Otto sah sich um. Konnie blickte zu Boden. Von den anderen konnte er ohnehin nichts erwarten.
«Und du willst doch auch nicht, dass der Klassenfeind das ausnutzt», redete Heinz weiter. «Was meinst du, wie schnell das drüben die Runde macht?»
«Also, was haben wir dann ermittelt?»
«Es gab häusliche Probleme», sagte Günter. «Und die wird es ja wirklich gegeben haben. Oder?»
«Dann hat sich Frau Radunek das Leben genommen.» Rolf.
«Der Genosse Radunek hat das nicht ertragen und seinem Leben auch ein Ende gesetzt.» Heinz.
«Und die Kinder?»
«Das entscheiden andere», sagte Heinz. «Dafür gibt es Lösungen in unserem Land. Wahrscheinlich kommen sie in ein Kinderheim. Aber wenn wir den Radunek zu einem Geständnis gebracht hätten, dann wäre es für sie genauso gekommen. Etwa nicht?»
Otto sah, dass Heinz auf eine Antwort wartete. Aber er drehte sich um und ging davon. Noch bevor er die Stufen erreicht hatte, hörte er Rolf rufen: «Denkst du an das Bier?»
«Jaja», sagte Otto halblaut. «Denke ich dran.» Er war schon auf der Treppe.