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7.10.1983
Es nieselte leicht, und das schon seit dem frühen Morgen. Es hatte diese kurzen trockenen Phasen gegeben, aber immer war der Regen wiedergekommen. Nun war es nicht mehr lange bis zum Mittag, aber das Volksfest auf dem Platz der Kosmonauten war wegen des Wetters nicht richtig in Schwung gekommen. Die Leute warteten darauf, dass es aufklarte. Allerdings wurde der Regen gerade eher stärker, als nachzulassen.
Für sie war der Regen auch blöd. Mit den Regenschirmen fiel man immer auf. Und man war so unbeweglich. Otto nahm die beiden Bratwürste, die er gerade bezahlt hatte, auf eine Hand, hielt den Schirm in der anderen und ging zu Konnie hinüber, der im Eingang eines Ladens stand.
«Statt Mittag», sagte Konnie, als er in die Wurst gebissen hatte. «Habt ihr bei solchen Einsätzen je etwas zu tun gehabt?»
«Kommt vor», Otto pustete auf seine Wurst, um sie abzukühlen. «Genau hier, vor ein paar Jahren. Am 1. Mai. Das war … egal.» Er biss zu. «Da haben sich ein paar Assis gekloppt. Und die Genossen von der Volkspolizei waren auch schnell zur Stelle und hatten das im Griff. Ich hab das erst gar nicht gesehen. Und dann ist das trotzdem weitergegangen. Ging um Fußball.» Otto grinste Konnie an, der schon den Rest seiner Wurst verdrückte.
«Erfurt …»
«Das darfst du nicht sagen.»
«Was?»
«Das.»
«Erfurt?»
«Kapier es endlich.» Otto tunkte seinen Rest Wurst in den letzten Flecken Senf und schob ihn sich in den Mund.
«Dass ich Erfurt nicht aussprechen darf?» Jetzt grinste auch Konnie.
«Hmhm.»
«Ich hab’s ja nicht so mit Fußball. Bevor ich nach Gera zur MUK
gegangen bin, bin ich immer beim Handball gewesen.»
«In Halle?»
«SG
Dynamo. Wie ist das dann weitergegangen hier?»
«Die Prügelei?»
«Klar.»
«Wir hatten alle Hände voll zu tun. Und ich hab einem von denen, von den anderen, du weißt, was ich meine, einen mitgegeben. Der wollte aber auch nicht ruhig sein. Der hat sich noch gewehrt, als ich ihn schon fast im Barkas hatte. Da hab ich ihm noch mal … Die kleinen Freuden unseres Berufs.»
Konnie zeigte zum Himmel. Ein Fetzen Blau war in der Ferne zu sehen. «Und dieses Jahr?», fragte er.
«Weiß man nie. Die vom MfS haben schon recht. Hier ist eine ganze Menge los gerade. Man sieht das auch im Stadtbild. Ich bin ja häufiger hier als du. Die ganzen Langhaarigen, die werden immer mehr. Ich versteh auch nicht ganz, was die wollen. Aber am Tag der Republik findet man die eher im Landgrafen
als hier. Warst du schon mal da?»
Als Konnie den Kopf schüttelte, zeigte Otto hinter sich. «HO
-Gaststätte. Da oben auf dem Berg. Wahrscheinlich gucken die alle gerade auf die Stadt runter.»
Zwei Stunden später hatte es aufgehört zu regnen. Die Leute
drängten sich an den Wurf- und Wurstbuden. Auf der Bühne gab es Schlager.
«Komm», sagte Otto. «Ich kann das nicht mehr hören. Wir sind ja erreichbar.» Er tippte auf seine Jacke, in der das Funkgerät steckte. Sie drückten sich an der Stadtkirche vorbei und sahen am Rathaus, wie Günter ein Streichholz entzündete und es Heinz hinhielt. Die beiden waren mit sich beschäftigt.
«Da lang», sagte Otto. «Lass uns zur Bibliothek gehen. Wir sind einfach auf Streife, bis wir gebraucht werden. Hast du noch eine Zigarette? Meine sind alle.»
Als Otto sich die Zigarette ansteckte, hörte er das Funkgerät knacken. «Alle verfügbaren Sicherheitskräfte zum Johannisplatz. Provokationen durch Jugendliche.» Das Gerät knackte noch ein paarmal, aber es kam keine weitere Mitteilung. Konnie starrte ihm in die Augen, wartete darauf, dass er etwas vorgab. «Komm», sagte Otto. «Schneller Schritt, kein Rennen.»
Sie liefen am Platz der Kosmonauten entlang und sahen den kleinen Auflauf schon, als sie unter dem Johannistor waren. Uniformierte Volkspolizisten hatten einen Kreis gebildet, sie waren vielleicht ein Dutzend. Drumherum standen einige Genossen in Zivil. Otto erkannte etliche von ihnen. Die Situation war komplett unter Kontrolle. Es gab keinen Grund, so einen Alarm zu machen. Er legte Konnie eine Hand auf die Schulter. «Warte», sagte er.
Zwischen den Kollegen und den Uniformierten hindurch meinte er, ein paar Langhaarige zu sehen. Jung waren sie alle, und sie hatten einfach kein Gefühl dafür, dass sie sich die Zukunft verbauten, wenn sie so rumliefen. Wenn das seine wären, dachte er. Aber die drei waren ja zum Glück noch jung. In den Fenstern rund um den Johannisplatz lagen Leute. Manche zeigten mit dem Finger auf die Jugendlichen. Otto bemerkte jetzt
erst, dass die Schlagergruppe schon vor einer Weile aufgehört hatte zu spielen.
Aus der Schillerstraße tauchte Rolf mit hektischem Schritt auf. Otto konnte seine Gesichtszüge schon sehen. Er war bis zum Äußersten angespannt. Aber er wusste auch noch nicht, dass auf dem Johannisplatz alles unter Kontrolle war. Der erste Barkas der Volkspolizei rollte gerade heran, um die Störer mitzunehmen.
Nur aus dem Augenwinkel sah Otto die Bewegung. Nicht mehr als ein Huschen. Als er sich vergewissern wollte, was er genau gesehen hatte, fiel ihm an dem Eckhaus nichts auf. Konnie und er standen immer noch am Übergang zum Johannisplatz. Die Gruppe dort begann sich aufzulösen. Noch ein Barkas rollte heran. Ein paar der Langhaarigen wurden abgeführt, das hatten sie nun davon.
Otto blickte noch einmal auf das Haus an der Ecke, als eine dünne Gestalt in Jeans und Parka aus der Haustür geflitzt kam. Sie war ziemlich schnell und rannte in Richtung Goetheallee. Die langen Haare zottelten im Wind.
Rolf rief laut: «Halt!»
Konnie hatte ganz woanders hingeblickt und den Langhaarigen gar nicht bemerkt.
Rolf begann zu laufen.
Otto rannte auch los und war dem Jungen bald näher gekommen. Als der an der Goetheallee warten musste, weil Autos die Straße passierten, warf Otto sich auf ihn. Der Junge wehrte sich kaum und lag schnell am Boden.
«Idiot!», sagte Otto. Er blickte sich um und sah Rolf, der nur noch wenige Meter entfernt war. Freude auf dem Gesicht. Vorfreude.
Otto holte aus und gab dem Jungen zwei heftige Backpfeifen. Der fing an zu weinen.
Als Rolf sie erreichte, bebte er von Kopf bis Fuß. Otto wusste, was half, ihn zu beruhigen. Er holte aus, ballte die Faust und schlug dem Jungen auf die Nase. Die begann sofort zu bluten. Otto hoffte, dass die Nase nicht gebrochen war.