18 | MO 10.10.1983
Als Otto Kahla hinter sich gelassen hatte, sah er schon die drei anderen Wagen in einer langgezogenen Kurve am Straßenrand. Er erkannte Rolfs und Konnies Autos hinter und vor dem Wartburg der MUK . Die Kollegen selbst sah er nicht.
Die Gleise von Jena nach Rudolstadt verliefen parallel zur Straße. Als er sich vergewissert hatte, dass kein Zug in der Nähe war, stieg er hinüber und sah unter sich auf der abfallenden Wiese die Kollegen im Halbkreis. Lange konnten sie noch nicht hier sein, sonst hätten sie schon mit der Arbeit begonnen. Keiner von ihnen sagte ein Wort, als er sich dazustellte.
Die Genossen blickten auf eine Reihe von Bäumen und Sträuchern, die die Saale säumten. Der Fluss war hier nicht sehr breit und floss leise vor sich hin. Zwischen den Männern und den Bäumen ungemähte Wiese. Darauf im Schatten der Bäume ein Toter. Otto sah Jeans und dunkle Halbschuhe. Unter der hellblauen Jacke schien ein rotes Hemd hervor.
Krumm lag der Körper da. Auf dem Bauch, die Glieder verrenkt. Ein Arm war unter dem Körper versteckt, der andere zeigte auf den Fluss. Die Hand war dunkel vor Blut.
Genau wie der Kopf. Da hatte jemand aber ordentlich zugeschlagen. Otto sah noch einmal hin. Der Kopf war eigentlich keiner mehr. Eher ein Stumpf als etwas anderes. Da hatte niemand einfach nur zugeschlagen. Das war ein Werk totaler Raserei. Alles war blutig und dunkel. Er sah zu den anderen. Jeder Einzelne hatte den Blick auf den Toten gerichtet. Konnie ganz außen auf der anderen Seite. Daneben Heinz, dann Rolf und Günter. Er selbst hatte sich an den Rand gestellt.
Rolf war es, der das Schweigen brach. Zuerst hustete er, dann atmete er durch. «Braunkohle», sagte er.
Heinz schaute auf, Missbilligung in den Augen.
Rolf spürte das. «Das würde mein Ältester sagen», setzte er nach. Dabei legte er den Kopf ein wenig schräg.
Otto sah genau hin. Was aus dem Kragen der Jacke herausschaute, war blutig. Aber er hatte nur das Blut und nicht die dunkle Haut des Toten wahrgenommen. Der Hals war der eines schwarzen Mannes. Jetzt erst, wo er das wusste, konnte er Haut und Blut voneinander unterscheiden.
«Einer von den Afrikanern», sagte Heinz.
«Die Kubaner sind auch schwarz.» Konnies Wortmeldung.
«Die Algerier sind auch Afrikaner.» Das war Günter.
Nur er hatte noch nichts beigetragen, dachte Otto. Aber wo es nichts zu sagen gab, gab es nichts zu sagen. Der Mann, der vor ihnen am Boden lag, war tot. Afrikaner oder nicht. Sie würden herausfinden müssen, wer dafür verantwortlich war. So war es und nicht anders. Aber so schweigend hatten sie den Ersten Angriff noch nie begonnen.
Heinz drehte sich einmal um die eigene Achse. «Ereignisort ist …», sagte er, als er auf die Schienen blickte, «verdammt, der ist doch hier nicht totgeschlagen worden. Also sehen wir uns mal auf der anderen Seite der Gleise um. Oder ist das hier auch der Tatort?»
«Da …» Konnie zeigte auf zerdrücktes Gras vor ihnen. «Auf jeden Fall ist da etwas passiert. Aber die Grashalme richten sich schon wieder auf.»
Sie standen in der Mitte eines vielleicht fünf Meter breiten Grasstreifens. Hinter ihnen Schienen und Landstraße, vor ihnen Bäume und Gesträuch und dann die Saale. Da waren deutliche Spuren von Bewegung zwischen ihnen und dem Toten. «Wer hat uns denn benachrichtigt?», fragte er.
«Eine Frau …» Rolf zog einen Zettel aus der Jackentasche. «Eine Frau Semmler. Die ist von Saalfeld nach Kahla gefahren, um dort Eingewecktes bei ihrer Tochter abzuholen. Das hat sie so gesagt. Und aus dem Zug hat sie dann hier was liegen gesehen. Das hat sie auch so gesagt. Dann hat sie vom Laden ihrer Tochter aus angerufen. Die Kollegen haben das überprüft und uns benachrichtigt.»
«Dann sind das hier die Spuren der Schutzpolizisten, oder?» Otto sah in die Runde.
Keine Antwort war eine Antwort.
«Wenn der unter die Bahn gekommen ist», sagte Rolf, «dann ist das sowieso ein Fall für die Transportpolizei.»
«Bis wir das wissen, ermitteln wir.» Heinz sah Rolf nicht an, als er ihm antwortete. «Und dann sehen wir weiter.»
«Wo sind die überhaupt? Die von der Schutzpolizei?», fragte Otto. «Die könnten den Ereignisort doch mal absperren?»
«Verkehrsunfall in der Nähe.» Heinz zeigte nach hinten. «Die mussten weg. Konnie, Otto, absperren müsst ihr dann. Günter, der Auffindungsort. Rolf, wir bleiben hier bei Günter und schauen uns um.»
Konnie stand schon am Gleis und wartete einen Zug ab, der in Richtung Rudolstadt fuhr. Als sie an der Straße angekommen waren, rollte ein Funkstreifenwagen vor ihnen aus. Otto sprach den Fahrer an, der ausstieg. «Dass hier niemand durchkommt. Bis auf weiteres ist das unser Ereignisort. Ist ja leicht zu sichern, die Gegend hinter den Gleisen ist ja sonst nicht zugänglich. Oder?»
«Nein. Mal ein paar Angler. Oder Kinder. Aber …» Der Schutzpolizist sah auf die Uhr. «Die sind ja in der Schule.» Er überlegte kurz. «Nee, sind sie nicht. Sind Schulferien.»
«Gut», sagte Otto und stieg wieder über die Gleise. Günter war mit dem Toten beschäftigt. Er beugte sich zu ihm hinab und hob den ausgestreckten Arm am Jackenärmel hoch. Dann blickte er zu ihnen hinüber und suchte Heinz. Sein Gesichtsausdruck war irgendetwas zwischen angewidert und ratlos. Aber Heinz konnte er nicht finden. Der hatte sich gerade in den Wartburg gesetzt und benutzte das Funktelefon. Sicher sorgte er für den späteren Abtransport des Toten. Auf die Ergebnisse der Leichenschau war Otto gespannt.