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Otto betrachtete den Leichnam aus der Distanz einiger Meter, während Günter hockend dessen Kleidung durchsuchte. Auf einem Tuch hatte er schon einen Metallring mit einigen Schlüsseln und ein paar Münzen abgelegt. Dann begann er, den Toten herumzudrehen.
Die Zerstörungswut irritierte Otto. Er war schon vielerlei Arten von Tod begegnet. Gleich zu Beginn seiner Laufbahn in der MUK , ganz kurz nach dem Studium der Kriminalistik war das gewesen, hatten sie in Triptis einen älteren Mann unter dem W50 gefunden. Er hatte unter der Hinterachse des Lkw gelegen und sehr hässlich ausgesehen. Ein Doppelreifen war ihm über den Kopf gefahren und hatte nicht viel zurückgelassen, was die Verwandten in Erinnerung behalten wollten. Es hatte sich dann herausgestellt, dass das kein Mord gewesen war und sich die örtlichen Schutzpolizisten um den Fall kümmern mussten. Aber das Bild von dem, was vom Kopf übriggeblieben war, hatte Otto monatelang in seinen Albträumen wiedergefunden.
Das war vorbei. Das mit den Albträumen. Lange schon. Er hatte viel gesehen in den paar Jahren, die er bei der MUK war.
Aber der tote Schwarze da … Der stimmte einfach nicht. Wer wollte denn die Energie aufbringen, einen so zuzurichten? Wer würde überhaupt einem Lebewesen so etwas antun? Er hatte nicht Günters Perspektive, aber Otto konnte von seinem Standpunkt aus sehen, dass dem Kopf auf eine Art Gewalt angetan worden war, die nicht mit dem Tod geendet hatte. Da hatte jemand weiter-, und weiter-, und weitergemacht. Zerstörungswut reichte als Kategorie eigentlich nicht einmal aus, um das zu einzuordnen. Und wenn der Tote von der Bahn überfahren worden war, dann sähe er erstens ganz anders aus und läge zweitens nicht so weit von den Gleisen weg.
Otto betrachtete das Gras zwischen den Schienen und dem Auffindungsort. Zu viele mögliche Spuren hatten schon die Schutzpolizisten zertrampelt, als sie hier angekommen waren, um der Meldung dieser Frau nachzugehen.
«Hey», hörte er Konnie. Otto drehte sich um und sah den Kollegen ein gutes Stück weiter gebückt an den Schienen. Gerade richtete er sich auf und ging ein paar Schritte zur Seite, um eine Bahn passieren zu lassen, die in Richtung Jena fuhr. «Komm mal», rief er dann und winkte dabei.
Otto machte sich zögernd auf. Das war etwas, was sie verfolgen mussten. Denn das konnte jemand beobachtet haben. Von wo mochten die Leute gekommen sein, die den Toten dort abgelegt hatten? Vom Fluss her kaum. Also doch von der anderen Seite der Schienen. Einen erwachsenen Mann aus einem Auto zu heben und ihn über die Schienen zu schleppen, wie viele Leute brauchte es dazu? Und dann noch einen so zugerichteten Leichnam.
Im Augenwinkel sah Otto eine Gebirgsstelze auf einem in die Wiese ragenden Ast sitzen. Er hatte eben schon gemeint, dieses klare Ssissitt gehört zu haben. Von denen gab es immer mehr hier in den letzten Jahren. Er schaute noch einmal hin, es war ein Weibchen mit gelber Brust und weißer Flanke. Jetzt machte sich der Vogel auch schon wieder auf und flog in einem raschen Bogen über die Saale hinweg. Jedes kleine Insekt, das zu dieser Jahreszeit hier noch umherirrte, würde ihm zum Opfer fallen.
«Guck mal», sagte Konnie, als er ihn erreicht hatte. Er zeigte auf ein ganzes Muster von Blutspritzern, das direkt neben den Schienen auf dem Schotter zu sehen war. Dann wanderte der Finger weiter. Auch auf dem Gras waren Flecken, die von Blut herrühren konnten. Otto beugte sich herab.
«Scheiße!», sagte er. «Das müssen wir hier doch auch absperren.» Dabei fiel sein Blick auf noch mehr dunkles Rot weiter die Strecke entlang. «Warte mal», sagte er. Er machte einige Schritte, dann noch mehr. Bückte sich. Er war schon fast fünfzig Meter weit weg vom Auffindungsort. Klar, sie hatten ihn hier entlang der Gleise transportiert.