21
Als Otto seinen Wagen hinter dem Wartburg der Schutzpolizisten abstellte, wurde der Himmel dunkel. Es roch wieder nach Regen.
«Wie lange musst du hier noch bleiben?», fragte er den Uniformierten, der am Straßenrand stand und über die Schienen hinweg blickte.
«Bis sechs», sagte der junge Mann. «Am Abend. Dann kommt die Ablösung.»
Otto und Konnie stiegen über die Gleise und betrachteten den Auffindungsort. Konnie zog die Schultern hoch, als er auf den Flecken Wiese sah, wo der Tote gefunden worden war. «Ja, da hat Günter sein Unwesen getrieben», sagte Otto. «Und daher», er zeigte in Richtung Kahla, «kann er nicht gekommen sein. Also der Blutspur nach.»
Die Schienen entfernten sich von der Saale ungefähr dort, wo sie früher am Morgen die letzte Blutspur gesehen hatten. Sie marschierten noch ein Stück, ohne weitere Spuren zu finden. Die Landschaft wurde offener auf ihrer Seite der Gleise, sie blickten auf eine kleine Siedlung.
«Wie heißt der Ort?», fragte Konnie und wies mit dem Kinn auf die ersten Häuser, die keine hundert Meter entfernt standen, größtenteils von Bäumen verdeckt.
«Großeutersdorf.»
«Scheißname.»
«Ja.» Otto guckte über die Gleise hinweg. «Wir sollten uns da vielleicht umsehen. Andere Seite der Schienen, andere Seite der Straße. Da ist noch ein Rest der Siedlung.»
Er stieg als Erster über die Gleise, Konnie folgte ihm und seufzte. «Was soll ein Schwarzer denn da drüben zu suchen gehabt haben? Die leben doch alle in der Stadt?»
Das hatte sich Otto auch schon gefragt. Die hatten erstens ihre Wohnheime und zweitens ihre Gründe, sich nicht überall blickenzulassen. Auch wenn es vor ihrer Zeit gewesen war, wussten alle Schwarzen von Merseburg 1979. Alle hatten gehört, dass damals zwei Kubaner ermordet worden waren. Bestimmte Dinge sprachen sich eben rum.
Konnie starrte auf den Boden. Straßenrand, Geröll, weicher Boden, Wurzeln. Dann schüttelte er den Kopf. «Ich denke, die haben den aus einem Wagen geladen.»
«Da, wo die letzten Spuren zu sehen waren?»
«Und dann über die Gleise, und dann haben sie ihn da abgelegt.»
«Aber warum haben sie ihn dann noch diese fünfzig Meter oder so geschleppt?»
«Keine Ahnung. Du?»
«Nee.»
«Die anderen werden unzufrieden sein, wenn wir mit gar nichts ankommen.»
«Damit müssen wir leben. So was gibt es.»
Als Konnie ihn vor der Wache in Kahla absetzte, sah Otto, dass die anderen schon weg waren. Günter war sicher von irgendeinem Uniformierten nach Gera gebracht worden, um mit seiner Arbeit zu beginnen. Und der Wartburg der MUK stand nicht mehr vor der Tür. Heinz und Rolf waren also auch schon unterwegs. Er zündete sich eine Zigarette an, als Konnie mit einer Hand aus dem Fenster des Škoda grüßend davonfuhr.
Er rauchte die Zigarette langsam auf und startete dann den Wagen. An der Landstraße blinkte er nach Norden, nach Jena und zur Autobahn. Er ließ einen Trabant aus Richtung Rudolstadt vorbei, dann einen Barkas, der aus Richtung Jena kam. Und dann folgte er dem Barkas.
Der erste Regentropfen platschte auf die Windschutzscheibe. Er hatte nicht mehr viel Zeit, wenn er sich an der Bahnstrecke umsehen wollte. Und wenn es richtig zu regnen begann, dann war sowieso alles umsonst.
Noch ein Tropfen. Und noch einer. Er überholte den Barkas, fuhr durch Großeutersdorf hindurch, ohne die Geschwindigkeit zu reduzieren, und sah, dass sich Straße und Schienen voneinander entfernten. In Orlamünde fanden sie wieder zusammen, und Otto trat erst auf die Bremse, als er einen Abzweig erreichte.
Er stoppte den Lada und sprang heraus. Es hatte leicht angefangen zu regnen.
Mit langen Schritten lief er zu den Gleisen und blickte in beide Richtungen. Er rannte die Schienen entlang Richtung Süden, bis er außer Atem war und stoppte. Wischte sich Schweiß und Regen von der Stirn und lief zurück zum Auto.
Die Reifen quietschten, als er scharf anfuhr. Anders als die Saale mit ihren vielen kleinen Kurven jenseits der Gleise wand sich die Straße sanft durch das Tal. Otto war weit über der erlaubten Höchstgeschwindigkeit, als er Zeutsch erreichte. Er sah zur Linken eine Straße über Gleise und Fluss führen. Als er selbst eine Kurve auf der Landstraße gefahren war, bremste er und blickte in den Rückspiegel. Die Straße war frei, und er wendete. Dann fuhr er zurück bis zu dem Abzweig und ließ den Wagen auf der Brücke genau über den Schienen stehen.
Der Motor lief noch, als er über das Geländer blickte. Hinter ihm verliefen Gleise und Landstraße parallel, vor ihm die Schienen und der Fluss, gesäumt von hohen Bäumen. Der Regen wurde stärker.
Entscheide dich.
An der Landstraße entlang.
Oder am Fluss.
Otto rutschte die Böschung hinab und lief zwischen Gleisbett und Fluss Richtung Süden. Er spürte die Feuchtigkeit schon auf dem Gras unter seinen Füßen. Während er lief, starrte er auf den Rand des Gleisbettes. Lief noch schneller, während der Regen begann, dicht zu werden.
Als er erneut außer Atem war, wartete er kurz, Hände auf den Knien. Einen Versuch war es wert gewesen. Er holte Luft, blickte die Schienen entlang und drehte sich dann um.
Mehrere Sekunden und ein paar Schritte brauchte er, um zu verarbeiten, was ihn irritiert hatte, genau in dem Moment, als er sich auf dem Absatz umgedreht hatte.
Erneut drehte er sich und fing an, wieder schneller zu laufen. Und blieb gleich wieder stehen, als er einen roten Schimmer am Boden bemerkte. Er bückte sich und sah, wie das Blut im Nachmittagsregen versickerte.
Er holte ein sauberes Taschentuch aus der Jacke, legte es über die rote Spur und drückte fest darauf. Dann legte er es ordentlich zusammen und steckte es in die Tasche seines Jacketts. Vielleicht ließ sich feststellen, dass das Blut dieselbe Blutgruppe hatte wie das des Toten.