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Otto war gleich nach der Besprechung losgefahren und froh, allein zu sein und nachdenken zu können. Gerade schaltete er die Scheibenwischer aus. Der Regen hatte aufgehört. Die Treffen der Gruppe und der Austausch von Ideen und Gedanken waren das Zentrum der Ermittlung in jedem Mordfall. Dabei ergab es sich oft, dass alle Mitglieder der Gruppe die Rollen einnahmen, die sie sich im Lauf der Zeit erarbeitet hatten. Oder die ihnen zugewiesen worden waren, manchmal war er sich da nicht so sicher.
Rolf war der, der selbst dann noch gegen jeden guten Vorschlag argumentierte, wenn klar war, dass er verfolgt werden musste. Irgendjemand hatte dazu mal ein Fremdwort in die Runde geworfen, es war wohl Günter gewesen. Otto hatte den Begriff vergessen. Auch wenn es manchmal destruktiv erschien, was Rolf vorbrachte, hatte es doch oft einen soliden Hintergrund. Sind wir uns sicher, dass wir das Richtige tun?
Günter war derjenige, der zusammenfasste und dabei immer mit einem Auge auf Heinz blickte. Das war auf der einen Seite nützlich, weil es Momente gab, in denen irgendwer diese Arbeit tun musste. Auf der anderen klang es oft hohl und opportunistisch. Trotzdem waren Günters Beiträge hilfreich, weil sie alle zusammenbrachten auf einer Linie, auf einer Ermittlungslinie.
Dann war da Konnie. Immer mit dieser Art von Zurückhaltung, die er für angemessen hielt. Ich bin der Jüngste hier im Raum, sagte der Blick, sagte die Körperhaltung. Dabei hatte er eine gute Auffassungsgabe. Otto war froh, dass Konnie dabei war. So war er selbst nicht mehr der Jüngste in der MUK
.
Und dann Heinz. Als Hauptmann und Leiter war er der Ranghöchste der Gruppe und der erfahrenste Ermittler. Er machte oft den Eindruck, als wollte er verhindern, dass seine Leute abwichen von einer Linie, die er nicht immer deutlich bestimmte. Wenn jemand eine Idee formulierte, die den Gemeinsinn der Gruppe sprengte, dann war er sehr kritisch und oft abweisend. Und trotzdem fand er dann manchmal noch eine Lösung, die es möglich machte, dass sich jemand aus der Gruppe entfernte und seinem eigenen Instinkt folgte. Deshalb war Otto jetzt allein unterwegs. Er fuhr erneut an der Stelle hinter Kahla vorüber, an der sie den Schwarzen gefunden hatten.
Denn letztlich hatten sie alle nur ein Ziel. Wenn es zu einem Kapitalverbrechen gekommen war, mussten alle Kräfte mobilisiert werden, um den Täter zu finden. Dafür, dieses Ziel zu erreichen, tolerierte Heinz auch eine abweichende Meinung.
Was geschah, bevor sich der Rest der MUK
wieder auf den Weg machte, war Standard. Eine Sekretärin, wahrscheinlich wurde es wieder Frau Heitmann, wie meist, würde beauftragt, in Gera die Fäden in der Hand zu halten, wenn alle Mitglieder der MUK
unterwegs waren. Das war eine schwierige Aufgabe
und oft auch eine zeitraubende. Frau Heitmann musste erreichbar sein und die Meldungen weitergeben, die die einzelnen Mitglieder der Gruppe telefonisch durchgaben. Otto wusste, dass Frau Heitmann diese Arbeit gar nicht schätzte. Er hatte es durch Zufall mitbekommen. Ein Gespräch zwischen zwei Frauen im Treppenhaus, die nicht wussten, dass er eine halbe Etage über ihnen eine Zigarette rauchend aus dem Fenster starrte. Und mithörte, wie Frau Heitmann darüber klagte, dass sie kaum einmal auf die Toilette gehen konnte, wenn sie der MUK
zugeordnet sei. Sie musste schließlich ständig erreichbar sein. Und nur der eine Wartburg der Morduntersuchungskommission hatte ein Funkgerät. Jede andere Kommunikation lief über das Telefon.
Dann würde ihnen im Polizeipräsidium in Jena ein Raum freigeräumt werden. Es waren nicht viel mehr als vierzig Kilometer zwischen den beiden großen Städten, aber es hatte sich als sinnvoll erwiesen, für die nötigen Besprechungen, und das konnten je nach Lage der Dinge mehrere täglich sein, ein Quartier zu haben, das in der Nähe des Auffindungsortes lag. Und Gera war auch mehr als fünfzig Kilometer entfernt von jener Aue an der Saale. Außerdem war es möglich, dass ihnen in Jena noch zwei oder drei weitere Kriminalisten zugeordnet wurden für die anstehenden Ermittlungen.
Gerade war er durch Zeutsch hindurchgefahren und rollte weiter. Schienen und Fluss waren ein paar hundert Meter abseits nun. Durch Uhlstädt hindurch, gleich neben den Gleisen wieder, dann durch Etzelbach und Kirchhasel in Richtung Rudolstadt. Dort stoppte er den Wagen vor dem Bahnhof und sah, wie Leute aus dem Gebäude kamen. Ein Zug fuhr los nach Jena. Otto musste sich eingestehen, dass er nicht wusste, wonach er eigentlich suchte.
Das Gleisbett weiter abzulaufen, war vielleicht nicht
sinnlos, aber er wusste nicht, wo er beginnen sollte. Die Blutspuren würden mittlerweile verschwunden sein. Der Regen würde sie gründlich weggewaschen haben.
Otto versuchte sich zu erinnern, was der Tote bei sich gehabt hatte. Ein Schlüsselring mit einem Zimmer- und einem Fahrradschlüssel.
Dazu eine Abrisskarte für eine Veranstaltung. Von der Rolle, die konnte er überall gekriegt haben. Eine Kassenquittung aus einer Kaufhalle. Auch die konnte aus dem ganzen Land stammen. Ein Westpfennig in der Hosentasche, aber keine Geldbörse. Die hatten sie ihm abgenommen. Genauso wie seine Papiere.
Das war nichts, dachte Otto. Nichts jedenfalls, was ihm weiterhalf.
Ein Bus hielt auf dem Bahnhofsvorplatz. Der Fahrer öffnete das Seitenfenster und zündete sich eine Zigarette an. Er inhalierte und hielt den Rauch erstaunlich lange in der Lunge. Dann entließ er ihn in einem dünnen, nach vorn geblasenen Strahl. Ein Zug fuhr ein, er kam aus Jena. Es dauerte eine Weile, dann marschierten etwa dreißig Jugendliche gesittet aus dem Bahnhofsgebäude und verschwanden im Bus, der bald darauf losfuhr. Der Fahrer hatte seine halbgerauchte Zigarette qualmend aus dem Fenster geworfen.
Otto sah dem Bus hinterher, wie er in Richtung Innenstadt fuhr. Er zündete sich ebenfalls eine Zigarette an. Das Einzige, was er hatte, war der Blutfleck, den er vor dem Regen gerettet hatte. Wenn der dem Afrikaner zuzuordnen war, dann kamen sie weiter. Dann war der Tote in Rudolstadt oder noch früher in den Zug gestiegen. Otto wendete und fuhr zurück. Er würde sich noch ein paar Abschnitte der Gleise ansehen.