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Im Rückspiegel sah er Rudolstadt kleiner werden und schließlich verschwinden. Otto hielt am Straßenrand. Die Idee war richtig, aber er war nicht konsequent gewesen. Er sollte in die andere Richtung fahren. Weg von Jena, weg von Kahla und auch weg von Rudolstadt. Er suchte ohnehin auf gut Glück, und zwischen Kahla und Rudolstadt hatte er ja schon einen Hinweis auf den Afrikaner gefunden. Er ging jedenfalls davon aus, dass das Blut von ihm stammte.
Otto wendete und fuhr durch Rudolstadt hindurch. Als er die Industrielandschaft Schwarzas und das Chemiefaserkombinat Wilhelm Pieck passierte, kurbelte er das Fenster hoch, zu durchdringend war der süßliche Gestank. Bergauf in Richtung Saalfeld verlor er die Gleise zunächst aus dem Blick.
Auf der kleinen Hochebene zwischen Rudolstadt und Saalfeld angekommen, hielt er am Straßenrand und stieg aus. Er blickte hinunter auf die Saale und die beiden Reihen von Bäumen, die sie säumten, dann dahinter auf den Kulm, den bewaldeten Berg, ganz in Gelb und Rot. Zwischen Fluss und Anstieg lagen die Gleise und ein Panzerweg mit Betonplatten.
Ein Sperber kam auf recht niedriger Höhe auf ihn zugeflogen. Otto konnte ihn gut gegen den grauen Himmel sehen. Auch, dass es eben ein Sperber und kein Habicht war, man erkannte das am schnelleren Flügelschlag. Otto legte den Kopf in den Nacken und folgte ihm mit dem Blick, dann drehte er sich um und sah ihn schließlich im Dunst verschwinden.
Der hatte ein Mordstempo, aber keine Vorstellung davon, was er tat. Wenn er weiter in dieser Geschwindigkeit flog, dann kam er in den Westen. Einfach so. Und das Schönste war: Es kümmerte ihn nicht einmal. Er lebte in einem anderen Bewusstseinszustand.
So schlecht war das nicht, dachte Otto. Er beneidete den Vogel aus beiden Gründen. Weil er es konnte, einfach weiterfliegen, ohne sich zu scheren. Und weil er es tat, ohne Angst zu haben.
Als er den Wagen wieder in Bewegung setzte, fühlte sich Otto orientierungslos. Zwischen Schwarza und Saalfeld fuhr die Bahn durch wildes Gelände, recht fern von Dörfern und Häusern. Was hatte er dort finden wollen? Jetzt ließ er den Wagen über die Saale hinüber und zum Saalfelder Bahnhof ausrollen.
Er stieg aus und betrachtete das Bahnhofsgebäude. Es war spät geworden, fast fünf schon, und er hatte keinerlei Ergebnis vorzuweisen. Nachdem er ein paar Minuten auf dem Vorplatz gestanden und darauf gewartet hatte, dass ihm etwas Gescheites einfiel, betrat er das Gebäude und ging durch bis zum Bahnsteig. Als er sich gerade auf eine Bank gesetzt hatte, kamen Arbeiter die Treppe hoch. Für sie war die Tagschicht zu Ende, und für ihn auch bald.
Heute war Dienstag, und es war noch recht hell. Der tote Afrikaner war sonntags unterwegs gewesen – jaja, Heinz, vorbehaltlich der Ergebnisse der Leichenöffnung. Und im Dunkeln. Wenn er vor dem Abend dort abgelegt worden wäre, hätte das irgendwer bemerkt und die Volkspolizei benachrichtigt.
Wieder runter vom Bahnsteig. Er bewegte sich antizyklisch, die Treppen waren nun voll. Die Leute kamen von der Arbeit und ihm entgegen. Er suchte das Büro des Bahnhofsvorstehers. Als er durch das Fenster in der Holztür blickte, sah nur er einen unbesetzten Schreibtisch. Er klopfte, mehr aus Gewohnheit als in der Hoffnung, dass sich im Inneren des Büros etwas tun würde.
«Was wollen Sie denn?», hörte er eine Stimme hinter sich. Ein korpulenter Mann Mitte fünfzig in Uniform näherte sich
mit bedächtigen Schritten. Er hatte das «Sie» so laut ausgesprochen, als wolle er sagen, dass ihm nur jemand in Uniform eine Weisung erteilen könne. Seine war blau, und auf den Schultern war Geflochtenes zu sehen.
Otto zog seinen Ausweis aus der Tasche und hielt ihn dem Mann auf Augenhöhe hin. «Ich muss mal telefonieren», sagte er fast tonlos.
«Ach so», sagte der Uniformierte. Er schloss die Tür auf und wies auf seinen Schreibtisch. «Da», sagte er und blieb so stehen, dass Otto um ihn herum greifen musste, um an den Hörer zu kommen.
«Heitmann», meldete sich sofort die Stimme, die er erwartet hatte. Beide Silben so schnell gesprochen, als wäre sie in großer Eile.
«Oberleutnant Castorp.» Otto ließ eine Sekunde verstreichen, um Frau Heitmann die Gelegenheit zu geben, Luft zu holen und zuzuhören. «Ich bin in Saalfeld und breche meine Untersuchung hier ab. Fahre gleich nach Hause.» Mehr musste die Sekretärin nicht wissen.
«Gut, dass Sie sich endlich melden», hörte er ihre Stimme. «Der Genosse Oberleutnant Reim hat schon vor einer Stunde angerufen und durchgegeben, dass sie in Kahla einen …», sie überlegte einen Moment, «einen Schwarzen gefunden haben. Nein», sie machte wieder eine Pause, «natürlich nicht. In Kahla ist am Sonntag ein Schwarzer gesehen worden und ist nicht mehr auffindbar. Es gibt Hinweise, dass er in einem Wohnheim in Jena lebt.»
Als Otto nichts erwiderte, sagte sie noch: «Oder gelebt hat.»