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15.10.1983
Auf dem Parkplatz des kleinen Bahnhofs in Schwarza stieg Otto aus dem Lada. Der Eingang zum Chemiefaserkombinat fast vor ihm. Es war diesig und deutlich wärmer als an den Vortagen, und der Geruch der Produktion lag wie eine feuchte Mütze auf der Umgebung. Die Bahnschienen verliefen hier zwischen Straße und Betriebsgelände. Weiter in Richtung Rudolstadt führten sie sogar mitten durch ein Wohngebiet, da erwartete er nicht, noch irgendetwas zu finden. Trotzdem machte er sich auf, die Gleise abzugehen. Im Zweifelsfall hatten spielende Kinder, die Straßenreinigung und der Herbstwind zusammen mit dem starken Regen vor ein paar Tagen alle Spuren verwischt.
Samstags waren die Straßen nicht so belebt wie in der Woche. Otto sah auf die Armbanduhr. Nach neun. Es dauerte fast eine Stunde, bis er den Rudolstädter Bahnhof erreichte. Er ging an der Straße entlang zurück. Als er sich wieder in den Lada setzte, war es fast zwölf Uhr. Gefunden hatte er nichts.
Ein paar hundert Meter weiter stellte er den Wagen erneut ab. Ein graugrüner Flecken an der Straße, gerade groß genug, um das Auto zu parken. Die Bebauung war zu Ende. Er blickte die Schienen entlang, die zwischen einem abgeernteten Getreidefeld und einem Waldstück in Richtung Saalfeld liefen. Der Fluss hatte eine Kurve geschlagen und war hinter ihm. Der
Panzerweg aus Betonplatten, den er einige Tage zuvor schon von der Landstraße aus gesehen hatte, verlief entlang der Schienen. Otto schloss den Wagen ab und ließ den Zug nach Jena vorüberfahren, bevor er den Gleisen folgte.
Er hielt sich auf der nördlichen Seite, jener, wo der Tote gefunden worden war. Zerknüllte Zeitungsblätter lagen neben dem Gleisbett, ein verwaschener Haufen menschlicher Scheiße auf einer der Betonplatten, auch die Exkremente anderer Lebewesen sah er, kleiner, kompakter, ein zertretenes Spielzeugauto, dessen ursprüngliche Form er nicht mehr erkennen konnte, die verwitterte Hälfte eines alten Koffers, ein zerrissenes und vergilbtes Buch, dessen Blätter noch weich waren vom Regen. Er blieb stehen und blickte geradeaus. So ging es weiter. Der Panzerweg endete gleich im Wald, der die Schienen von nun an säumte. Hier war nur noch ein Trampelpfad vor ihm.
Er war dem Fluss wieder näher gekommen. Wusste er eigentlich, wonach er suchte?
Oder verschwendete er nur seine Zeit und Energie?
Konnte der Tote hier gewesen sein?
Otto hatte auf keine dieser Fragen eine Antwort. Er drehte sich um und ging zurück. Bald verfiel er in einen Laufschritt. Am Lada angekommen, war er schweißgebadet. Über die Motorhaube gebeugt, pustete er durch. Zurück nach Jena. Ich habe nichts gefunden. Aber den Versuch war es wert. Und schön, dass ihr wenigstens was ermittelt habt. Es geht doch nichts über kompetente Kollegen.
Als er Rudolstadt verließ, hatte er eine Idee. Zwei längere Gleisabschnitte, die durch unbewohntes Gebiet verliefen, hatte er noch nicht gesehen. Auf halbem Weg nach Etzelbach bog er ab und näherte sich den Schienen, die die Straße wie ein T abschnitten. Er ließ den Wagen stehen und lief an den Schienen entlang zurück in Richtung Rudolstadt. Auf der einen Seite
ungenutzte Wiese, auf der anderen, hinter den Schienen, ein kahles Feld. Der Zug nach Saalfeld fuhr vorüber, und Otto machte einen Schritt zur Seite. Dann lief er weiter. Als er fast wieder in Rudolstadt angekommen war, drehte er um und lief noch schneller zurück.
Beim Laufen sah er auf die Uhr. Schon drei durch. Gleich war er wieder an der Stelle, wo er den Wagen abgestellt hatte. Dort würde er sein Tempo reduzieren, um aufmerksamer gucken zu können. Otto bemerkte ein flatterndes Stück Papier in einem Strauch. Er ging ein paar Schritte zurück und stand vor einem Teich, der von Bäumen und Gesträuch umgeben war. Zwischen ein paar Zweigen eines dornigen Busches zitterte ein Stück Pappe vor sich hin. Bemerk mich, rief sie. Sie rief laut, und trotzdem hätte er sie beinah übersehen.
Er bückte sich und zog die Pappe aus den dürren Zweigen. Es war der größte Teil einer Stechkarte. Ab- und aufgerissen vor allem oben, wo ein Name stehen sollte, verwaschen und verblichen von Regen und Sonne. Mit dem Toten konnte die nichts zu tun haben, dafür hing sie hier schon zu lange.
Als er seinen Lada längst wieder passiert hatte, merkte er, dass seine Aufmerksamkeit nachließ. Der Verkehr auf der nahen Landstraße war stärker geworden.
Bleib konzentriert.
Er reduzierte sein Tempo und ging weiter. Fern bemerkte er einen Hasen am Rand der Wiese springen. So einen hatte er lange nicht gesehen. Unrat am Gleisbett. Ein zerfleddertes Schulheft. Hinter sich hörte Otto einen Zug, der sich näherte. Er trat zur Seite und wartete ab. Der Fahrtwind ließ ihn frösteln.
Richtig kalt wurde ihm, als er dem Zug hinterherblickte. Nicht direkt an den Gleisen, aber doch nah, lag etwas, das aussah wie der kleine Teil einer Schüssel. Halb versteckt unter einem dicken Büschel von hohem Gras.
Es war das, was er suchte. Er hatte nicht gewusst, was es sein würde, das er suchte. Aber in dem Moment, als er es sah, war es Otto sofort klar. Er wusste auch, dass er keine Schüssel sah. Doch so rund und geschwungen geformt, wie es war, hatte sich im Schatten ein wenig Flüssigkeit darin gesammelt und gehalten.
Ganz langsam näherte er sich dem Gegenstand, so als könne er besser begreifen, was geschehen sein musste, damit dieser hier zum Liegen kam. Otto blickte sich um, aber niemand machte ihm diese Entdeckung streitig.
So langsam, wie er sich genähert hatte, bückte er sich auch. Ameisen kreisten um das Stück in einer Ordnung, die er nicht verstand. Dabei war in dem Gegenstand, der kaum größer war als die Handfläche eines Kindes, nichts mehr zu holen. Otto erhob sich wieder und überprüfte die Gegend. Wo ein Stück lag, konnten noch andere sein. Aber nach einer Weile gab er die Suche auf. Er holte ein frisches Taschentuch aus der Jackentasche und verscheuchte zuerst die Ameisen damit. Dann wickelte er den Gegenstand sorgfältig ein und trug ihn zum Auto.
Otto zweifelte nicht daran, dass er ein Stück des Schädels gefunden hatte. Damit wussten sie nun zweifelsfrei, woher der Tote gekommen war. Und sie wussten auch, dass sie sich um die Bahnstrecke kümmern mussten, wenn sie wissen wollten, wie der Afrikaner gestorben war.