32 | SO 16.10.1983
«Schöne Scheiße!» Heinz saß in der provisorischen Ermittlungszentrale in Jena und sah in die Runde. Konnie fehlte noch. «Scheiße!», sagte Heinz noch einmal. Die Fenster des Raumes waren offen. Draußen machten die Vögel ordentlich Morgenlärm. Otto hörte genau hin und erkannte die Stimme einer Haubenlerche, bei der man nie wusste, woran man war. Die allermeisten von ihnen, die in der DDR lebten, blieben auch hier. In die Stadt gehörte der Vogel eigentlich nicht. Aber sein Gesang war so schön. Da kam kaum ein anderer Vogel mit. Meist war es ein viersilbiger Rhythmus, den die Vögel variierten. Dabei griffen sie auch auf Melodien der Konkurrenz zurück, wenn einer von denen in der Nähe ebenfalls sang. Haubenlerchen waren einfach erstaunlich.
«Das dauert auch ein paar Tage!» Günter streckte sich.
«Aber wir werden da ja keine Überraschungen mehr erleben. Ich meine …» Konnie kam in den Raum, als Otto redete. Er setzte sich grußlos auf den Stuhl, der der Tür am nächsten stand. «Ich meine, wir haben eine Leiche, der ein Teil vom Schädel fehlt, und ein Stück Schädel, das wir gefunden haben, als wir nach Spuren gesucht haben. Wo ist das Problem?»
«Gar kein Problem», sagte Heinz. «Wir sind uns so sicher wie du, dass das Schädelstück von unserer Leiche ist. Die Frage ist nur: Wie kommt es dahin?»
«Ein Tier vielleicht», sagte Rolf ohne Betonung.
Rolf wieder mit seinen Tieren.
«Aber ein Tier rennt nicht an der Bahnstrecke entlang», sagte Konnie. «Das sind wie viele Kilometer vom Auffindungsort bis dort, wo Otto das Schädelstück gefunden hat?»
«Etwas mehr als zehn», sagte Otto leise.
Rolf sah zur Seite. Er wusste selbst, dass er die Idee nur formuliert hatte, damit sie ausgeschlossen werden konnte. Dabei warf er Otto so einen Blick zu. War das Spott? Mitleid? Überlegenheit. Ja, vielleicht.
«Wenn diese Geschichte stimmt mit der Geschwindigkeit, mit der der …», Andreas Wasser überlegte offenbar, wie er den Satz zu Ende bringen wollte, «mit der der Tote die Böschung hinabgerollt ist, und ich will das gar nicht anzweifeln, Günter, was du da entworfen hast, dann müsste ja jemand genauso den Schädel oder diesen Teil von ihm aus dem fahrenden Zug geworfen haben. Das klingt so …»
«Das klingt nicht glaubwürdig», sagte Heinz. «Und außerdem müsste ja eine Tür offen gewesen sein, um den ganzen Körper hinauszuwerfen. Der passt nicht einfach so durch ein Fenster. Und die Türen lassen sich so schwer öffnen, die kriegt man ja schon kaum auf, wenn man auf dem Bahnsteig steht.»
«Nee, kommt, Genossen.» Otto sah Heinz ins Gesicht. «Die Türen im Zug kann man öffnen, auch während der Fahrt. Aber trotzdem stimmt das doch hinten und vorne nicht. Man kann doch niemanden einfach aus einem fahrenden Zug werfen. Wie soll das denn gehen? Zum einen kriegen das doch andere Leute mit. Ach, Schatz, guck mal, die werfen da gerade einen Mann raus, gibst du mir noch einen Keks? Und dann das ganze Blut. Da muss doch alles voll davon gewesen sein. Und ich rede noch nicht einmal davon, dass das Schädelstück dann auch irgendwann rausgeworfen worden sein soll, bevor sie dann den Körper rausgestoßen haben.»
«Vielleicht war es ein Zug mit Sechserabteilen», sagte Heinz. «Kann man die nicht blickdicht verschließen? Mit Vorhängen?»
«Auch das Abteil wäre ja komplett mit Blut besudelt», sagte Günter.
«Ja. Und wir hätten davon gehört.» Otto drehte sich wieder zu den anderen. «So etwas bleibt doch in der Deutschen Demokratischen Republik nicht unbemerkt.»