40 | MI
19.10.1983
Der Bahnhofsvorsteher wartete dieses Mal schon auf ihn. Otto hatte sich telefonisch angemeldet.
«Natürlich haben wir das gewusst», sagte der dicke Mann, ohne ihn anzusehen, als Otto die Tür zu dem Büro öffnete. Er wartete in der Tür und fragte sich, ob der Bahnhofsvorsteher ihn gemeint hatte. Aber der Telefonhörer lag auf der Gabel.
«Na, da ist einer von denen unter die Räder gekommen, von den Mosambikanern. Ihr von der Kriminalpolizei habt das ja nicht herausgegeben. Aber hier bei der Reichsbahn reden die Leute doch darüber.» Jetzt drehte er sich auf seinem Stuhl und rieb sich die Augen. «Da bleibt ja nichts geheim. Wenn es um die Reichsbahn geht, das kriegen wir früher oder später schon mit. All die Züge, die da vorbeigefahren sind, wo sie den gefunden haben.» Er legte den Kopf leicht zur Seite.
Auf dem Weg zum Bahnsteig sah Otto zwei Angehörige der Transportpolizei. Sie standen am Ende des Durchgangs und rauchten. Der Bahnhofsvorsteher musste auf der Treppe kurz Luft holen. «Hier fahren die Züge ab», sagte er, als sie oben ankamen. Der Bahnsteig war beinah leer. Eine alte Frau saß auf einer Bank und hatte beide Hände auf einen großen Koffer gelegt. Ihre Augen waren geschlossen. Sie sah aus, als wäre sie auf dem Weg in den Westen. Der Wind, Otto spürte es, wurde stärker und auch kälter. Aber er war nicht krank.
«Wie viele Züge fahren hier täglich in die Richtung?»
«Das kann ich so pauschal nicht beantworten. Da gibt es ganz unterschiedliche Zugtypen. Aber schon mehr als ein Dutzend unter der Woche.»
«Und am Wochenende?»
«Auch nicht weniger. Aber wenn zu schlechtes Wetter ist für Ausflüge, und wenn kein Fußball ist in Jena, und kein Stadtfest in Rudolstadt, und auch die ganzen … ich glaube, die nennen sich Blueser, wenn die nicht auf irgendeinem Konzert in der Nähe sind, dann sind die manchmal urst leer. Die Soldaten gibt es natürlich noch.»
«Sind denn von den Vertragsarbeitern viele unterwegs von hier aus?»
«Am Wochenende eigentlich mehr als in der Woche.»
«Und gibt’s da schon mal Konflikte?»
«Unter denen?»
So hatte Otto die Frage gar nicht gemeint. Aber er nickte.
«Die schubsen sich schon mal. Aber wenn das passiert, dann gucken sie sich auch schnell wieder um, ob es jemand sieht. Und dann hören sie auch schon auf. Hat’s denn Ärger gegeben mit denen?»
«Und zwischen den Mosambikanern und … und uns?»
Der Bahnhofsvorsteher drehte den Kopf zur Seite. Zwei junge Männer kamen die Treppe hoch, eine Frau knapp hinter ihnen, und gingen an der Bank vorüber, auf der die Frau mit dem großen Koffer saß. Die Männer trugen verwaschene, ausgebeulte Jeans und Karohemden unter der Jacke, setzten sich auf die nächste Bank und zündeten sich Zigaretten an. Die Frau, auch in Jeans und weißem Männerhemd, stellte sich vor sie. Das brachte Otto auf die Idee, auch zu rauchen. Er holte seine Packung hervor und hielt sie dem Bahnhofsvorsteher hin.
Der pulte eine Zigarette heraus. «Manchmal hat es schon
Streit gegeben. Aber nie so, dass das was wäre, was man melden müsste.»
Neben ihnen tauchten die Uniformierten der Trapo auf. Sie gingen direkt durch zu den dreien, die eben hochgekommen waren. Der eine verstellte den Weg zur Treppe, der andere sprach sie an. Wie gelernt. Sie nahmen die Ausweise entgegen.
Otto hielt dem Bahnhofsvorsteher sein Feuerzeug unter das Kinn und sah, dass der schon mit dem ersten starken Zug ein Drittel der Zigarette verbrauchte. «Sondern?», fragte er.
«Mehr so kleinere Sachen. Wenn mal ein paar von unseren schon da waren und dann einer von denen gekommen ist, dann haben die den schon mal provoziert. Das muss ich ganz ehrlich sagen.»
«Wie denn?»
«Na, nur so mit Worten meistens.»
«Wie denn so?»
«Ja, was sie dann so sagen. Irgendwas mit Dachpappe. Und dann so Uh-uh-uh.»
«Hmhm.» Otto wartete, ob der Dicke mehr zu erzählen hatte. Als er zum Abfalleimer ging und dort seine Zigarette ausdrückte, hätte er fast irgendetwas gefragt, aber er sah, dass der Bahnhofsvorsteher reden wollte. Er kam zurück und stellte sich direkt vor Otto, viel zu nah für seinen Geschmack.
Otto griff in die Jacke und holte die Zigaretten wieder heraus. Er hielt dem Mann die Packung hin und trat gleichzeitig einen Schritt zurück.
Als er den ersten Rauch der neuen Zigarette wieder entließ, guckte der Dicke auf den Boden. «Ich will ganz ehrlich sein», sagte er. «Ich kann die Neger einfach nicht leiden.»
Otto fixierte ihn. Der Dicke hob den Kopf wieder und hatte beinah ein Lächeln auf den Lippen.
Manchmal tut es den Leuten einfach gut, sich die Dinge von
der Seele zu reden, dachte Otto. Selbst so einen Unsinn. «Und wenn das nicht, wie meistens, bei Worten blieb?»
Die beiden von der Trapo kamen wieder zurück und gingen die Treppe hinab.
Der Dicke bückte sich und hob den Fetzen von einer Zeitung auf, warf ihn in den Abfall. «Einmal», er war schon vom Bücken außer Atem. «Einmal hab ich gesehen, wie sie einen verprügelt haben.»
«Wer?»
«Die Jungs von hier.»
«Böse?»
«Nicht so sehr. Sonst hätte ich ja was gemacht.»
«Hmhm … Also mehr so hin- und hergestoßen?»
«Ja. Auch.» Jetzt überlegte er, was er sagen sollte. Und Otto fragte sich, ob es zu diesen Vorgängen wohl Unterlagen bei den Kollegen der Transportpolizei gab. Wahrscheinlich fragte sich der Dicke das auch gerade. «Einmal haben sie auch eine Bierflasche nach einem von denen geworfen. Aber sie haben hinterher auch wieder alles sauber gemacht. Sie haben nämlich gesehen, dass ich das beobachtet habe.»
«Hat die Bierflasche den Mosambikaner – es war ein Mosambikaner, ja? – getroffen?»
«Ja, ein bisschen. Kaputtgegangen ist sie aber erst, als sie auf den Boden gefallen ist.»
«Und war der Mosambikaner verletzt?»
«Das kann ich nicht sagen. Der ist ganz schnell aus dem Bahnhof verschwunden.»
«Und die Kollegen von der Trapo?»
«Schichtwechsel?» Der Bahnhofsvorsteher zuckte kurz mit den Schultern.
Nach einer kleinen Pause zeigte der Bahnhofsvorsteher auf die Treppe. «Ich muss jetzt, der Zug fährt gleich ein. Aber ich
hab mit denen natürlich gesprochen, mit den Jungs. Die haben gesagt, dass einer von ihnen auch schon mal von den Mosambikanern verprügelt worden ist.» Dann war er weg.
Otto wartete noch, bis der Zug einfuhr, es war der D 506, der um 17.22 Uhr nach Berlin fuhr. Die drei Leute, die eben kontrolliert worden waren, stiegen ein. Er half der Frau mit dem Koffer in einen Waggon und blickte dann dem Zug hinterher.