42 | DO 20.10.1983
«Das ist das also in kurz», sagte Günter und hob den Kopf. Der Versammlungsraum in Jena war dicht vor Rauch. «Ich kann das auch noch einmal für alle verständlich …»
«Ist schon klar», sagte Rolf.
«Ich will das hören. Ich will das einfacher hören und auch genauer.» Für Otto war die Sprache der Rechtsmediziner nichts Neues, und im Grunde hatte er verstanden, was Günter eben vorgetragen hatte. Eigentlich hatte er es mehr vorgelesen. Aber sie brauchten das doch alle viel konkreter. Er konnte sowieso kaum glauben, was Günter gerade dargelegt hatte.
Rolf saß ruhig da und hatte die Arme vor dem Oberkörper verschränkt, den Blick nach unten gerichtet.
«Also», sagte Günter. «Das Wichtigste in dem Bericht ist alles, was mit der Gewalteinwirkung auf den Kopf zu tun hat. Man kann sich das ja alles schon denken, wenn man den Kopf sieht … Oder das, was von ihm übriggeblieben ist. Was den Kopf so zerstört hat, ist nicht nur mehr als ein Schlag oder ein paar davon. Es ist ein fortgesetzter Einfluss, der da eingewirkt hat. Im Grunde genommen müsst ihr euch das vorstellen wie bei einer Mühle. Was man da reingibt, geht kaputt. Genau so war es bei dem Kopf.» Er biss sich auf die Unterlippe. «Und jetzt wird es interessant. Denn der Vergleich mit der Mühle ist nicht so falsch. Vielleicht haben sich das einige von euch auch schon so gedacht. Also … Wenn man einen Hammer auf einen Kopf schlägt, dann hinterlässt der dort Spuren. Und wenn man das noch einmal macht, dann eben wieder. Und so weiter und so fort. Irgendwann sind wir vielleicht nicht mehr in der Lage, den Eindruck des ersten Schlages zu identifizieren, weil die nachfolgenden die ersten Spuren nachhaltig zerstört haben. Das ist ja klar.» Günter sah kurz alle in der Runde an.
«Hier ist es anders. Die Mühle, die ich erwähnt habe. Die Einschläge sind vielfältig, aber ungleichmäßig. Das lässt sich sagen, auch wenn vom Kopf, wie ihr wisst, nicht alles bei uns angekommen ist. Das, was wir haben, erzählt aber auch eine Geschichte. Das Rudiment des Kopfes weist Eindrücke vieler verschiedener Gegenstände auf. So viel können wir sagen. Spitze und stumpfe, größere und kleinere. Das lässt sich deutlich erkennen in den Auslassungen, die uns … die uns geblieben sind.»
«Er ist irgendwo reingeschoben worden?», fragte Andreas Wasser.
Günter legte den Kopf zur Seite.
«Aber was haben denn dann die Verletzungen an den Händen zu bedeuten?» Durch das Fenster sah Otto einen riesigen Schwarm großer Vögel. Sie waren weit weg, aber er meinte, Kraniche zu erkennen. Sie würden nach Südwesten fliegen. «Der war nicht gefesselt, jedenfalls haben wir ihn nicht so gefunden. Und es gab ja auch keine Spuren von Fesselungen an den Armen. Der muss doch irgendwas mit den Händen gemacht haben. Entweder hat er sich gewehrt oder er hat versucht, das zu verhindern, was mit dem Kopf passiert ist. Das ist doch nur natürlich.»
«Genau, wie du sagst. Die Hände müssen irgendwas getan haben.» Günter betonte das was in irgendwas so deutlich, damit auch jeder zuhörte. Unnötig eigentlich, denn alle im Raum standen unter Strom. Außer Rolf vielleicht. «Und anders als bei den Füßen, die, das haben die Spuren ergeben, für eine Zeitlang aneinandergefesselt gewesen sind, waren die Hände frei. Die Hände erzählen uns allerdings weniger präzise, was sie erlebt haben, als es der Kopf tut. Das liegt vor allem daran, dass sie beweglicher sind, sowohl im Ganzen als auch in ihrer inneren Struktur. Und daran, dass sie die Haltung sehr schnell verändern können. Und ihr habt die Hände ja gesehen. Natürlich haben die etwas getan. Die haben versucht, abzuwehren, was auf den Kopf zugekommen ist. Und sie haben es nicht geschafft, was müßig ist zu sagen.»
«Das Bild mit der Mühle?» Heinz streckte die Hände aus.
«Das Bild mit der Mühle ist nur bis zu einem bestimmten Punkt schlüssig», sagte Günter. «Ihr müsst euch davon wieder lösen.»
«Wenn sie ihn nicht mit dem Auto bis nach Kahla gebracht haben», Konnie hob den Finger, «und davon gehen wir ja schon lange aus, weil dieser eine Teil der Schädeldecke so weit weg vom Auffindungsort gelegen hat … Und wenn der Zug tatsächlich eine Rolle gespielt hat, nicht nur, um den lebenden oder toten Teo Macamo zu transportieren …»
«Dann haben sie ihn aus dem Fenster gehalten.» Heinz’ Augenbrauen zogen sich zusammen, als er es aussprach.
Günter schüttelte den Kopf.
«Warum nicht?», fragte Heinz.
«Es passt nicht.» Günter hielt seine Hände so vor sich, als würde er in jeder eine Flasche Schnaps halten. «Wenn du jemanden aus dem Fenster hältst, und ich lasse die Antwort auf die Frage einmal aus, warum jemand so etwas tun würde und wie er diese Person durch diese Öffnung geschoben kriegte, die Fenster klemmen ja fast immer in den Zügen, aber wenn du jemanden also aus dem Fenster hältst und die Beine noch greifen kannst, dann kommen die Hände draußen nie im Leben auf dem Boden auf.»
«Und wenn du so weit kommst, und du ihn dann loslässt», sagte Radtke, «dann hat er nicht diese Verletzungen.»
«Genau.» Günter blickte in die Runde.
Für mehr als einen Moment herrschte Stille im Konferenzraum.
«Die Tür.» Otto fuhr aus seinen Gedanken auf. Alle blickten auf Konnie, von dem der Einwurf gekommen war. Und es dauerte erneut einen langen Augenblick des Schweigens, bis alle gleichzeitig anfingen zu reden.
«Aber die ist zu während der Fahrt.»
«Normalerweise.»
«So ein Unsinn.»
«Also, ich schaffe das nicht, einen erwachsenen Mann an den Füßen festzuhalten.»
«Manchmal stehen die sogar während der Fahrt offen.»
«Was sonst?»
«Vielleicht hat der zwischen den Rädern festgehangen.»
«Wenn die Verletzungen das hergeben.»
«Manchmal lassen sich die Türen ja nicht einmal mehr richtig verschließen, die muss man wirklich nicht mit Gewalt öffnen.»
«… wer so was tut.»
«Nicht in der DDR
«Vor allem wer.»
«Mindestens zwei Mann.»
«Das ist alles Unsinn.» Heinz hatte das letzte Wort beinah geschrien. Alle wurden still. Heinz packte den Flachmann, aus dem er gerade noch einen Schluck genommen hatte, wieder weg.
«Wieso Unsinn?», fragte Günter.
«Weil an dem ganzen Modell nichts stimmt.» Heinz holte Luft. «Alle Komponenten, mit denen wir hier normalerweise umgehen … Tatmotiv? Ereignisort? Zeugen? Das erschließt sich mir nicht.»
Teo Macamo hatte sich gerade hingesetzt. Otto sah ihn vor sich, ohne eine Person zu sehen. Er war im Moment mehr eine Figur in einer Versuchsanordnung. Wen hatte er im Zug getroffen? «Wir müssen», sagte er, «von dem ausgehen, was wir wissen. Oder von dem, was wir annehmen können. Und wenn das heißt, dass wir da starten, dass den einer aus dem Zug …» Otto stockte. Er konnte es sich nicht vorstellen. «Dass den einer aus dem Zug gehalten hat …»
«Mehrere», sagte Konnie.
«Klar, mehrere. Also, wenn wir davon ausgehen, dass wir das wissen, dann lasst uns eben rekonstruieren, was vorher los gewesen sein könnte.»
«Gut.» Heinz zog an seiner Zigarette und drehte mit den Händen unter dem Tisch die Flasche auf. «Dann lasst uns umgekehrt vorgehen. Günter, ich will wissen, was da passiert ist. Wenn die den aus dem Zug gehalten haben sollten, was ist da abgelaufen?»
«Wie meinst du das?», fragte Günter.
«Wie meinst du das.» Heinz verdrehte die Augen. «Wir haben darüber geredet, wie der Körper von dem ausgesehen hat. Ich will wissen, wie das vor sich geht.» Er redete schon zum zweiten Mal an diesem Morgen lauter als gewöhnlich. «Wenn wir das mit dir machen. Was machst du dann?» Er starrte Günter an.
Der legte den Kopf schräg. «Wenn ihr mich überwältigt habt. Und wenn ihr mir die Beine zusammengebunden habt. Und wenn ihr mir, das ist wahrscheinlich, vorher ordentlich auf die Mütze gegeben habt. Wenn ihr mich dann aus dem Abteil in den Vorraum schleppt, dann weiß ich wahrscheinlich noch nicht, was ihr vorhabt. Es sei denn, ihr habt das angekündigt. Vielleicht seid ihr ja betrunken. Oder ihr braucht das Aussprechen selbst als gegenseitige Motivation und Vergewisserung.»
Er zögerte einen Moment. «Wenn ich darüber nachdenke, dann habt ihr es ganz sicher angekündigt. Stellt euch mal vor: Ihr seid zu zweit, oder wahrscheinlicher noch, zu dritt. Ihr müsst ja irgendwie miteinander kommunizieren, und was immer ihr auch gerade macht, extreme körperliche Gewalt, Aufgeputschtsein bis zum Kollaps, und dann muss ja dieser Macamo auch noch geschrien haben … Ich, meine ich. Ihr werdet euch nicht flüsternd verständigt haben oder gar nichtverbal. Also werdet ihr natürlich darüber geredet haben, dass ihr den Macamo aus dem Abteil tragt. Also mich. Oder schleppt.»
Günter hob seine Hände leicht an und atmete ein. Sein Mund war offen, er hatte nur noch nicht das Wort gefunden, mit dem er fortsetzen konnte. «Und vielleicht habt ihr auch schon darüber geredet, dass ihr mich nicht nur in den Vorraum schleifen wollt. Also wehre ich mich. Ihr habt mir ja die Beine zusammengebunden. Wenn ich mir auch noch nicht vorstellen kann, wie das geschehen ist. Hat jemand was mitgebracht dafür? Wohl kaum. Und wenn ihr mir also die Beine zusammengebunden habt, aber die Hände nicht, dann … schlage ich um mich. Ich wehre mich, so gut ich kann. Aber ihr seid mehr. Ich denke, ihr seid mindestens drei Leute. Und …»
Günter machte eine Pause und dachte nach. Otto widerstand dem Impuls, ihn zu unterbrechen. Aber ein Punkt war da, den musste er doch ansprechen.
«Aber das ist nicht das Wichtigste.» Günter redete jetzt ganz langsam. «Wenn ihr mich in diesem Abteil verprügelt und fesselt und dann hinausschleppt, dann müssen … ich wiederhole, dann müssen das Leute mitgekriegt haben. Und dann fange ich an, um Hilfe zu rufen.»
Er holte Luft. Das war der Punkt, dachte Otto. Wenn tatsächlich geschehen war, was Günter da entwarf, dann war das nicht im Verborgenen geschehen.
«Wenn …» Radtke lehnte sich nach vorn.
«Nein», sagte Günter.
Heinz riss seinen Arm nach oben. Schweig!, hieß das.
«Und selbst wenn der Zug am Sonntagnachmittag, oder war es schon Abend, nicht voll gewesen ist, muss das doch jemand gesehen und gehört haben …»
Gesehen.
Und.
Gehört.
«Wie ihr mich aus dem Abteil schleppt. Ich wehre mich also gegen euch, und trotzdem schafft ihr es natürlich, mich da rauszukriegen. Und dann ist die Tür eben nicht verschlossen. Oder sie ist offen. Moment … Vielleicht war es doch nicht der Plan, mich zur Tür hinauszuhängen. Es ist ein Zufall, dass sich das mit der Tür so verhält. Und dann … Dann wehre ich mich noch mehr.»
Günter fixierte Heinz. «Du hast gefragt, was dann passiert. Wenn die Tür also offen ist, und ihr stark genug seid, mich da hinauszuhängen, und das seid ihr, ich denke, dass euch das keine Mühe macht, vielleicht seid ihr sogar mehr als drei Leute, dann schiebt ihr mich durch die offene Tür, während ich versuche, genau das zu verhindern. Es ist aussichtslos, jedenfalls, was die Kräfteverhältnisse angeht. Und trotzdem mache ich es. Ich will leben, ich will weiterleben, und weil ich weiß, dass das, was ihr mit mir machen wollt, mein Leben zu Ende bringt, wehre ich mich. Ich wehre mich um jede Sekunde, und vielleicht bin ich so wach, dass ich begreife, dass jede Sekunde, die ich euch daran hindern kann, mich da rauszuwerfen, irgendjemanden alarmieren könnte einzugreifen. Und wenn nicht, dann tu ich das aus reinem Überlebensinstinkt. Jede Sekunde zählt, so sind wir. Aber das gelingt mir eben nicht. Ihr seid in der Überzahl.»
Jetzt fuhr er sich mit den Händen über die Augen. «Gib mir das Ding», sagte er zu Heinz.
Heinz reichte den Flachmann hinüber. Günter betrachtete ihn und seinen Inhalt. Halbvoll, goldbraun. Er setzte ihn an und ließ einen langen Schluck laufen. Dann reichte er die Flasche weiter. Andreas Wasser, der neben ihm saß, nahm einen kleinen Schluck. Als er die Flasche auf dem Tisch zur Seite reichte, wischte sie Rolf weiter zu Radtke, der den Verschluss öffnete. Rolf holte seinen eigenen Weinbrand hervor.
«Jetzt sind wir genau da», sagte Günter. Konnie holte einen Flachmann hervor und schob den von Heinz weiter. Otto drehte den Verschluss auf und leerte die kleine Flasche mit zwei Zügen. Ein Blick zu Heinz, der ihn bemerkte und wegsah.
«Jetzt sind wir genau da, wo du …», Günter zeigte auf Heinz, «wo du eben drauf hinauswolltest. Ich habt mich draußen. Und sagen wir, ihr habt mich ganz fest und sicher in euren Händen. Wie viele aus so einer Eisenbahntür hinausgreifen können, wenn sie offen ist, weiß ich nicht, aber …»
Günter stockte. Er hob eine Hand, den Ellbogen auf dem Tisch, und führte die Finger zusammen. Er konnte in Worten noch nicht gleichermaßen zusammenbringen, was er sah.
«Was ist?», fragte Heinz.
Die Finger an Günters Hand waren zusammengepresst, als er antwortete. «Die Fessel um die Beine, die kann natürlich als Griff dienen, um mich festzuhalten. Fragt sich, ob das Teil eines Plans ist oder zufällig geschehen ist. Also können tatsächlich zwei Leute in der Tür stehen und vielleicht auch noch diese Fessel halten … das ist sehr frei gesprochen. Aber das ist das ja alles, was wir hier machen. Und wenn ihr mich dann also raushaltet, dann hört bei mir alle Vernunft auf zu arbeiten. Das ist wie bei einem Angriff mit dem Messer. Das kennt ihr. Die Hände wehren das ab, obwohl es unfassbar heftig schmerzt. Wir gehen davon aus, dass das Gehirn in so einer Situation ausblendet, was geschieht. Die Hände fangen ab, was für den Körper bestimmt ist, und der Schmerz, der objektiv da ist, wird im Empfinden gleichzeitig runtergefahren. Das wisst ihr alles. Wenn ihr mich also da raushängt, geht es mir genau so. Meine Hände fangen mich auf. Ein Faktor ist, wie tief ihr mich haltet. Aber ganz gleich, was ich aushalten muss … Meine Hände, und die Arme dazu, halten meinen Kopf so weit weg vom Schotter und von den Schwellen, wie es halt geht.»
Ausatmen bei Günter.
Ausatmen bei allen anderen.
«Das geht ganz gut», sagte Günter dann. «Bis es nicht mehr geht. Die Hände versuchen selbst, sich vor dem Schmerz zu schützen. Sie drehen sich sofort so, dass die Handfläche abfedert, was den Schmerz verursacht. Das werde ich auch getan haben, als ihr mich da gehalten habt. Und für eine Weile, eine kurze Weile, will ich betonen, auch erfolgreich. Und dann … Die Hände sind das eine Problem. Die Arme das andere. Und, wie ich ja eben gesagt habe, ich weiß nicht, wie tief ihr mich gehalten habt. Aber die Gewalt, die auf die Arme eingewirkt hat, wenn ich mich – ich sollte sagen, als ich mich auf diesem Untergrund abgestützt habe, hat nicht nur meine Hände zerstört. Sie hat auch die Fähigkeit der Arme unterminiert, mich zu halten. Das ist ja schon schwer, wenn ihr euch vorstellt, wie ihr euch selbst haltet, falsch rum. Und sosehr ihr auch bei den Sportprüfungen … lassen wir das. Das läuft ineinander. Die Zerstörung der Hände. Das Fleisch reißt auf. Die Knochen brechen. Und das geht recht schnell. Verlangt nicht von mir, da eine Zeit zu nennen. Und während sich die Hände auflösen, aufgerissen werden, Stück für Stück, gerade an den Enden der Schwellen, versagen die Muskeln der Arme ihren Dienst. Die Kommunikation zwischen Händen und Gehirn, das geht um den Schmerz, der kommt ja gar nicht bei den Armen an – der Schmerz aus den Händen kommt auch kaum im Gehirn an, wenn ich das noch einmal betonen darf. Und deshalb bürde ich den Händen so viel auf wie möglich und den Armen zugleich. Und das geht so seine Zeit. Ich …» Günter sah Konnie an, der ihm gegenübersaß. «Ich brauche noch einen Schluck.»
Konnie schob seinen Flachmann über den Tisch. Günter nahm ihn, schraubte ihn langsam auf und hielt ihn an den Mund. Er schloss die Augen und ließ den Weinbrand in sich laufen, bis die Flasche leer war. Dann drehte er den Verschluss wieder zu und legte die Flasche vor sich ab. «Das mit dem Schmerz ist wichtig. Wenn ihr mich da raushängt. Wenn die Hände kaputt sind. Und wenn die Arme, wenn die Muskeln in den Armen versagen. Wisst ihr, was der Kopf macht? In so einer Situation?»
Günter schwieg.
«Der Kopf schaltet ab. Und das noch viel radikaler als die Hände, die den Schmerz nicht spüren wollen. Das hat natürlich auch mit dem Kopf zu tun, geschenkt …» Er wedelte kurz mit seinen langen Fingern. «Aber in der Sekunde, in der der Kopf auf dem Schotter oder auf so einer Schwelle oder weiß der Teufel was ankommt, weil die Arme das alles nicht mehr halten können, da braucht es nur den einen Schlag, und das Gehirn zieht sich zurück vom Verstehenwollen und vom Verstehenkönnen. Ihr habt von dem Begriff Dissoziation noch nicht gehört, das lehren sie aber hier und da mittlerweile. Der Schmerz ist beim ersten Schlag so stark, dass das Gehirn entscheidet, das Verstehen davon auszusetzen. Da ist eine Instanz, die sagt, dass das nicht vermittelt werden kann. Ihr haltet mich also da raus, und ich schalte ab. Da ist ein Punkt, an dem geht bei mir nichts mehr. Da bin ich auch kaum noch ich. Und was ihr dann tut, weiß ich natürlich nicht. Ihr kriegt da bestimmte Sachen gar nicht mit. Wenn die Hände und die Arme aufhören zu arbeiten und der Kopf die Gewalt allein – oder fast allein, die Arme hängen da ja noch – abkriegt, dann habt ihr immer noch mein Gewicht zu tragen. Wahrscheinlich sogar mehr als vorher, weil die Arme nichts mehr auffangen. Vielleicht kriegt ihr das mit, vielleicht auch nicht. Es ist euch wahrscheinlich auch gleichgültig. Und dann … Irgendwann merkt ihr, dass in mir kein Leben mehr ist. Zu dem Zeitpunkt ist ein Teil meiner Schädeldecke schon weggesprungen. Von dem, was darunter ist … Ich bin längst tot und spüre das nicht mehr. Auch Teile meines Gehirns fliegen davon. Und alles, was an meinem Kopf der Gewalt ausgesetzt ist, die die Geschwindigkeit, die ein fahrender Zug hat, gegen meine armselige fleischliche Gestalt ausübt. Und dann … Dann lasst ihr mich vielleicht los. Das ist dann bei Kahla.»
Rolf fing Günters Blick auf. Er schob einen weiteren Flachmann zu ihm rüber. Günter drehte ihn auf und trank gierig. Alle sahen ihm dabei zu. Er legte die leere Flasche zur Seite. Hielt den Blick gesenkt. Für Minuten traute sich niemand zu reden.
Heinz atmete tief ein und wirkte so, als wolle er etwas sagen. Dann aber ließ er nur die Luft aus der Nase entweichen und presste die Lippen aufeinander.
Otto hatte einen Geschmack in der Kehle, der ganz bitter war. Ein bisschen tiefer noch, und er würde sich übergeben. «Wir wissen trotzdem noch gar nichts», sagte er und schluckte den Brechreiz herunter.
Niemand widersprach ihm.