55 | SO 23.10.1983
«Warum fahren wir nicht mit unserem Auto?», fragte Mike, als sie im Bus saßen. Sie waren auf ihrem jährlichen Besuch in den Feengrotten gewesen und jetzt ins Zentrum Saalfelds unterwegs. Birgit war zu Hause geblieben. Sie brauchte auch einmal einen freien Nachmittag.
«Aber das hat der Papa doch schon gesagt.» Kathrin guckte ihren kleineren Bruder an, der neben ihr saß. Sie stemmte die Hände in die Hüften. «Weil er die ganze Woche so viel Auto gefahren ist. Und weil heute Sonntag ist.» Ruth nickte dazu wie besessen. Kinder nahmen Hierarchien eben ernst.
Kinder nahmen auch die absurdesten Begründungen ernst. Auf der Hinfahrt im Zug hatte Otto so viel wie möglich aus dem Fenster gesehen und die Strecke betrachtet. Viel hatte er nicht dabei gelernt.
Es war Viertel vor fünf, als sie vor dem Bahnhof standen. Ein paar Leute kamen von den Sonntagsschichten und wollten nach Hause. Familien wie ihn und seine Kinder gab es auch. Die Frau mit den beiden schweren Taschen hatte gerade die Eltern besucht. Und trug nun frisches Gemüse heim. Aus der einen Tasche guckten ein paar Blätter heraus, Kohlrabi. Sie erinnerte ihn an Mama, als sie jünger gewesen war. Otto beschleunigte den Schritt. Sie waren nicht in Eile. Aber er wollte auf dem Bahnsteig sein, bevor der Zug einfuhr.
Der Rückweg selbst war ihm nicht wichtig. Er wollte sehen, wer sonntags nach Jena unterwegs war. Der Zug um 16.58 Uhr war wahrscheinlich nicht der, den Teo Macamo vor zwei Wochen genommen hatte. Es war ganz einfach noch nicht dunkel genug. Otto ging davon aus, dass das alles im Schutz der Dämmerung geschehen war. Vielleicht nicht einmal mit dem Plan, das schwächer werdende Licht zu nutzen. Aber manche Dinge taten Leute einfach, ohne darüber nachzudenken. Wenn sie nur wüssten, wo Teo Macamo gewesen war, bevor er im Zug gesessen hatte.
«Wisst ihr eigentlich, dass ich ‹Mensch ärgere Dich nicht› mitgebracht habe?», fragte Otto beiläufig auf den letzten Stufen hoch zum Bahnsteig.
Helles Geschrei. Keine halbe Minute später saßen sie auf einer Bank und hatten das Spielbrett zwischen sich. Otto hatte einen guten Blick auf die Treppe, die beiden Kleinsten standen.
«Du bist dran, Papa», sagte Kathrin. Otto würfelte und bewegte seine Figur.
Zwei Langhaarige kamen die Treppe hoch. Hinter ihnen gleich zwei Kollegen von der Transportpolizei. Klar, das war Grenznähe.
«Papa!» Otto würfelte.
So nah war es streng genommen gar nicht zur Grenze. Die uniformierten Kollegen überprüften die beiden. Der Zug fuhr ein. Die paar Leute auf dem Bahnsteig stiegen ein. Unter ihnen auch die beiden Überprüften.
«Macht einfach weiter», sagte Otto zu den Kindern. Er stand auf und ging zu den Uniformierten. Mit einem von den beiden hatte er schon einmal zu tun gehabt. Und er glaubte, in dessen Augen so etwas wie Erkennen zu sehen.
«Genossen», sagte Otto. Er hielt seinen Dienstausweis kurz hoch. «Ich weiß, das sieht nicht so aus … Aber ich habe hier was zu tun.» Er zeigte auf die Kinder hinter sich.
Der Zug fuhr ab.
«Tolle Tarnung», sagte der, den Otto nicht kannte.
«Papa!», rief Mike.
«Ich komme.» Otto drehte sich kurz um zu den Kindern, die ihn erwartungsvoll anstarrten. «Könntet ihr mir den Bahnsteig für die nächste Stunde überlassen?», fragte er die Kollegen dann. «Ich will nur sehen, wer hier an einem Sonntagnachmittag auftaucht.»
Die beiden sahen sich kurz an. Der eine, den er kannte, sagte: «Das geht.» Der andere starrte in die Gegend. Der eine sagte noch: «Wenn du Hilfe brauchst, Genosse …»
«Danke», sagte Otto und eilte zu den Kindern zurück. «Ich bin dran, ja?» Er würfelte.
«Was hast du da gemacht?», fragte Mike. Seine Augen waren so groß wie Kaffeetassen.
«Ich habe mit den anderen Polizisten geredet.»
Die Kinder hatten mit dem Spiel aufgehört. Die Antwort war wichtiger.
«Habt ihr die beiden mit den langen Haaren gesehen?»
Mike und Ruth reagierten nicht. Kathrin sagte nur: «Ja.»
«Ich hab die Polizisten gefragt, ob sie die beiden verfolgt haben.»
«Und?», fragte Kathrin. «Haben sie?»
«Ja. Sie haben ganz genau aufgepasst, dass sie nichts … Dass sie nichts Blödes tun.»
«Machen Langhaarige blöde Sachen?», fragte Mike.
«Manchmal schon», sagte Otto. «Wer ist dran?»
«Du.»
Er würfelte und bewegte seine Figur. Der nächste Zug war der D 506, der bis nach Berlin fuhr. Er sollte jede Minute kommen und die Türen öffnen. Auf der Treppe tauchte auch schon ein Mann auf, der schwer an einem Koffer trug.
«Papa, du passt gar nicht auf», sagte Kathrin.
«Doch, doch.» Otto nahm die Würfel in die Hand. Wie fast alle Züge fuhr auch der D 506 leer vor. Saalfeld war der Startbahnhof. Nach Süden ging nicht viel wegen der Grenze. Ein junger Soldat erschien auf dem Bahnsteig. Klar, die fuhren sonntags zurück zur Kaserne.
«Haha!» Mike hatte für sein Alter schon ein ganz schön dreckiges Lachen. «Rausworfen», sagte er und lachte weiter. Otto nahm seine Figur vom Brett und sah, dass die Kinder bester Laune waren. Er verzog das Gesicht. Es gab nichts Besseres, als Papa im Spiel zu demütigen.
Der Zug rollte an den Bahnsteig und hielt mit knarzenden Bremsen. Ruth hielt sich die Ohren zu.
Ein stämmiger Mann mit schlecht gekämmtem Haar schleppte zwei Koffer zugleich auf den Bahnsteig. Oben angekommen, wartete er, nach unten blickend. Ein älteres Paar, Otto vermutete, dass es die Eltern waren, kam schweren Schrittes hinterher. Rentner, ganz wie er es gedacht hatte. War Teo Macamo mit den Alten zusammen in den D 506 gestiegen? Und dann? Was war dann geschehen?
Ein Streit.
Um irgendetwas.
Freilich konnte jeder zu jeder Zeit ebenso wie Macamo und die Rentner noch in dem Zug gewesen sein. Eine Fahrkarte kaufen und den nächsten Zug nehmen. Das war dann eben der D 506.
Aber der D-Zug war teurer als die anderen. Hatte das eine Rolle gespielt für Macamo? War das eine Frage für die Frau in Naumburg?
Ein junger Mann kam die Treppe herauf, blieb aber einige Stufen unterhalb des Bahnsteigs stehen. Otto erkannte eine Uniform.
Noch ein Soldat. Der Junge sagte etwas zu jemandem treppab. Dann streckte er eine Hand aus und zog ein Mädchen im gleichen Alter zu sich hoch. Sie umarmten sich auf den Stufen.
«Papa!», rief Mike kichernd. «Aufpassen.»
«Ja. Klar.» Otto würfelte und setzte seine Figur wieder ein.
Ein Mann in den Vierzigern kam hoch. Anzug und Ledertasche. Er würdigte Otto und die Kinder keines Blicks, stieg stattdessen sofort in den Zug.
Die Ansage kündigte die Abfahrt des D 506 an.
«Müssen wir den nehmen, Papa?», fragte Kathrin nicht zum ersten Mal.
«Erst den Nächsten», sagte Otto. «Wir nehmen den Nächsten. Bin ich wieder dran?»
Ohnehin war es noch zu hell, dachte er, als sich der Zug in Bewegung setzte. Das Mädchen schaute dem Zug traurig hinterher und winkte dabei dem jungen Soldaten, der sich aus dem Fenster lehnte. Der stämmige Sohn war wieder auf der Treppe. Otto dachte an sein Bild von Teo Macamo, wie er in den Zug stieg … es war einfach schon dunkler gewesen.
«Jetzt hast du schon wieder nicht aufgepasst.» Kathrin war ein bisschen empört.
Sie hatte ja recht. Er hatte überhaupt nicht achtgegeben.
Kindergeschrei auf der Treppe. Eine Fünf- oder Sechsjährige kam hoch und blickte sich um.
«Bleib da stehen!», befahl ihr eine hohe Frauenstimme. Das Mädchen gehorchte sofort. Eine Frau und ein Mann folgten dem Kind, sie hatten einen kleinen Jungen zwischen sich.
«Wir müssen gleich mal einpacken», sagte Otto.
«Ooch», sagte Ruth.
Nach fast einer halben Stunde fuhr ihr Zug ein. Bis zur Abfahrt hatten sie aber noch fast zehn Minuten Zeit.
Jetzt erschienen mehr Menschen als zu den anderen beiden Zügen. Noch zwei Jungs in Uniform. Ein paar Alte. Noch eine Familie. Zwei Männer in seinem Alter, die sich angeregt unterhielten. Und gerade kam eine Gruppe auf den Bahnsteig, die Otto erst einmal einordnen musste. Ein Mann in den Vierzigern, Vollbart und Haare fast bis auf die Schulter, Nickelbrille und eine Zigarette zwischen den Lippen. Ihm folgten fast zehn Leute beiderlei Geschlechts. Alle um die zwanzig. Schlaghosen, Hemden über der Hose, weite Kleider, Sandalen mit Socken, Umhängetaschen, fröhliche Mienen. Kirche war das Einzige, was Otto einfiel. Der Anführer zeigte auf eine Zugtür und kletterte in den Waggon. Die anderen folgten ihm.
«Kommt!», sagte Otto und nahm Ruth an die Hand. Als sie kurz darauf unterwegs waren, dachte er, dass es immer noch zu früh war. Es war doch noch recht hell. Und immerhin waren schon zwei Wochen vergangen seit dem Mord an Teo Macamo. Damals war es noch heller gewesen. Sie würden sich also um den letzten Zug kümmern müssen. Den, der kurz vor neun fuhr.
Als Mike auf seinem Schoß einschlief, spürte Otto, wie müde auch er war.