58
Als er hochschreckte, spürte Otto sofort diesen Schmerz vorn im Kopf. Und hinten. Und an den Seiten auch. Er stützte die Hände auf die Matratze, um sich zu stabilisieren und merkte, dass er keuchte.
Vorn an der Stirn war der Schmerz hart und prügelnd. Dahinter lag ein dumpfes Irgendwas, das den Rest des Kopfes besetzte. Hatte er geträumt? Würde er sich erinnern können? War es wichtig?
Birgit lag neben ihm und schlief fest. Auf dem Nachttisch stand ein leeres Glas. Wer hatte das dort abgestellt? Und wer zum Teufel hatte ihn mitten in der Nacht angezogen?
Ein Fuß auf den Boden.
Der nächste.
Ein wenig Schwung. Drehen im Kopf. Und mächtiger, sehr mächtiger Schwindel.
Otto nahm das Glas vom Nachttisch und ging ins Wohnzimmer. Er öffnete den Schrank und starrte auf die Flasche. Das Glas ließ er neben der Flasche und eilte zur Toilette. Er kniete sich hin und klappte die Brille hoch. Hinter den Augen war Druck, und im Rachen entwickelte sich etwas Saures.
Seine Brust zog sich zusammen. Otto hustete kurz, dann beugte er sich über die Schüssel. Er wartete noch eine Sekunde und dachte an den toten Macamo neben der Eisenbahnstrecke. Es dauerte noch einen weiteren Moment, bevor der Schwall endlich kam.
Die Zähne putzte er sich mehrere Minuten lang. Dann nahm
er einen kräftigen Schluck von dem Weinbrand und ging zum Kühlschrank. Er pappte eine große Portion vom Kartoffelsalat auf einen Teller und ging zum Fenster im Wohnzimmer.
Der Salat war genau das, was er brauchte. Er war schwer und fettig. Voller Mayonnaise, mit hart gekochten Eiern und Spreewaldgürkchen und vielen Zwiebeln. Er aß den Teller leer und holte sich noch einen. Den vollen Teller stellte er auf dem Fensterbrett ab und nahm noch einen Schluck Weinbrand.
Den zweiten Teller aß er mit weniger Heißhunger. Das Fett tat dem Körper gut. Er hatte seit dem Mittag keine Mahlzeit mehr zu sich genommen. Sein Blick wurde langsam klarer. Draußen auf dem Parkplatz zwischen den Häusern sah er zwei Männer, die von irgendwo kamen. Ihre Schritte waren nicht sicher. Sie mussten getrunken haben.
Wie mochten sie morgen auf der Arbeit erscheinen? Er hatte morgen wenigstens frei. Kommt am Mittwochmorgen wieder. Ruht euch aus. Vergesst den Fall.
Vergesst Teo Macamo.
Was hatte Birgit gesagt? «Das ist doch nicht das erste Mal.»
Recht hatte sie.
Gegenüber ging im vierten Stockwerk ein Licht an. Einer der beiden Männer war kurz zu sehen. Otto konnte ihn nicht wirklich erkennen, aber er ging davon aus, das es einer der beiden war, die er eben wankend auf der Straße gesehen hatte. Das Licht ging wieder aus. Wie spät war es eigentlich?
Kurz nach zwei.
Was würde er also morgen an dem freien Tag anstellen?
Otto stellte sich eine offene Zugtür vor. Jemand stieß den Macamo hinaus, der dann an einem Seil baumelte.
Zuerst würde er ausschlafen.
Einen Schluck noch, dachte er. Er brachte den Teller in die Küche und legte ihn samt der Gabel ins Spülbecken. Dann
gönnte er sich noch einen letzten Tropfen aus der Flasche. Und ging wieder ins Schlafzimmer. Zog sich aus und legte sich auf den Rücken. Politik war eben Politik, dachte er. Was konnte man da schon machen?
Als er eine Stunde später immer noch nicht schlafen konnte, drehte sich Otto auf die Seite und legte eine Hand auf Birgits Rücken. Er hörte ihr kurzes Schnaufen als Reaktion. Dann das leise Füüüüt, und seine Frau war wieder ganz weit weg.
Einzuschlafen gelang ihm auch auf der Seite liegend nicht. Denk nicht an den Macamo.
Er sah Mike beim Spielen auf dem Bahnsteig.
Er sah Birgits Kartoffelsalat, weil er nicht an Marion denken wollte.
Dann sah er Marion nackt vor sich liegend.
Und dann sah er den Macamo. Wie er mit dem halben Kopf und den zerstörten Händen da am Fluss lag.
Birgit schlief tief.
Irgendwann sah Otto nichts mehr. Der Schlaf hatte ihn doch geholt.