59 | DI
25.10.1983
Es war Tag. Und Birgits Bettseite war kalt. Otto horchte in die Wohnung hinein, aber er hörte keinen Ton. Wenn er es genau betrachtete, war es auch schon viel zu hell. Birgit und die Kinder waren lange weg. Und Papa war krank.
Er sah auf die Uhr. Nach zehn. So spät war er lange nicht mehr aufgestanden. Seit Jahren nicht mehr.
Heute war frei. Er war nicht in Panik aufgewacht. Nicht mit dem Gedanken, schnell nach Gera zu fahren.
Frei also.
Keine Arbeit heute.
Nichts zu tun.
Und trotzdem brachte er die Kinder nicht zur Schule und zum Kindergarten, wie sonst, wenn er frei hatte. Es war also doch anders als sonst. Ein anderes Freihaben.
Die Küche war aufgeräumt wie immer. Der Teller, den er in der Nacht benutzt in die Spüle gelegt hatte, stand gespült neben dem anderen Zeug. Birgit hatte wie immer auch noch Zeit gefunden, sich darum zu kümmern. Otto setzte Wasser auf und ging zum Wohnzimmerfenster. Als er auf den beinah leeren Parkplatz zwischen den Neubauhäusern blickte, fielen ihm die beiden Männer ein, die mitten in der Nacht betrunken nach Hause gekommen waren. Vielleicht hatten sie Schichtdienst. Vielleicht wachten sie gerade erst auf. Vielleicht sollte
ihm auch egal sein, was die beiden heute machten und wie es ihnen ging.
Was wollte er selbst heute machen?
Was würden die anderen heute tun?
Wäre Heinz heute im Präsidium in Gera? Und warum fragte er sich das gerade?
Mit dem Kaffee und einer Zigarette schaute er wieder aus dem Fenster. Nicht, dass es dort interessanter war als irgendwo sonst in der Wohnung. Aber man musste ja irgendwo sein. Das Nirgendwo war keine Option.
Ein Mann in grüner Lederjacke spazierte über den Parkplatz. Er betrachtete die drei Autos, die dort standen, einer davon sein Lada, und ging weiter. Im Haus gegenüber, eine Etage unter ihnen, putzte eine Frau die Fenster. Sie trug eine Bluse mit einem kleinteiligen Muster in Grau und Weiß. Das Kleidungsstück sah aus, als wäre es aus dem Westen. Aber warum würde sie eine Bluse aus dem Westen beim Putzen anziehen?
Otto wusch sich und verließ das Haus. Er ging zur Kaufhalle und blieb im Eingang stehen. Eine Frau grüßte ihn, er grüßte zurück. Erst dann drehte er sich um, blickte ihr hinterher. Woher kannte sie ihn?
In der Kaufhalle war nicht viel los, aber an der Fleischertheke stand eine kleine Schlange. Um diese Zeit war er wirklich nie hier. Eine gute Gelegenheit eigentlich, einzukaufen. Aber er wusste nicht, was sie gerade brauchten.
Wieder draußen, bemerkte er, dass es ganz leicht regnete. Er ging zurück zum Haus und wartete ein paar Minuten unter dem Vordach über der Tür. Dann setzte er sich in den Wagen und fuhr los.
Erst als er auf den Saalbahnhof in Jena zufuhr, merkte Otto, dass er ein Ziel hatte. Er parkte den Lada und ging hoch zum
Bahnsteig. Wo waren die Leute ausgestiegen, die den Macamo auf dem Gewissen hatten?
Er setzte sich auf eine Bank, stand aber sofort wieder auf. Verlies den Bahnhof und fuhr zurück nach Lobeda. Wenn nicht im Bezirk Gera irgendwo ein Mord geschah, würden sie morgen Prozessakten vorbereiten oder irgendwo aushelfen. Sie hatten schließlich gerade erst zwei Morde gehabt. Zwei innerhalb von weniger als zehn Tagen. Das war ungewöhnlich genug. Ihr Bezirk war ein friedlicher in einem ohnehin friedlichen Land.
Irgendwann merkte Otto, dass er schon seit einer Weile vor ihrem Haus stand. Er hatte geparkt und aufgehört nachzudenken. Der Mann in der grünen Lederjacke ging wieder vorüber. Er starrte kurz zu Otto in den Wagen hinein.
Das friedliche Land, dessen er sich vor einigen Minuten noch so sicher gewesen war, veränderte sich, als er an Teo Macamo dachte. Otto sah die offene Zugtür und ein Gesicht ohne markante Züge. Eine Maske. Was er aber erkannte in dem Gesicht, in der Maske, war Freude. Freude darüber, dass der Macamo aus dem Zug hing.
Otto warf die Zigarette aus dem Fenster und startete den Lada wieder. Er wollte noch einmal zum Saalbahnhof fahren.