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Es war nach Mittag, als er den Lada vor dem Bahnhof parkte. An einem der Verkaufsschalter musste Otto einen Augenblick überlegen, bevor er das Ziel angeben konnte. Als er «Saalfeld» sagte, wusste er schon, dass er nicht bis zum Ende fahren würde.
Auf der Treppe sah er, dass der 12.22-Uhr-Zug aus Halle ein paar Minuten Verspätung hatte. Er atmete aus und schaute sich auf dem Bahnsteig um. Wie üblich um die Mittagszeit war nicht viel los. Die Züge waren voll, wenn es zur Arbeit ging, und auf dem Rückweg.
Otto stieg ganz hinten ein und ging alle fünf Waggons langsam ab. Sie waren offen und ohne abgeschlossene Abteile. Auf beiden Seiten des Gangs waren je zwei Bänke mit jeweils zwei Sitzen. Die meisten waren leer. Er betrachtete eine junge Frau, die einen Säugling im Arm hielt. Sie hatte eine Reisetasche vor sich, neben ihr lag eine Decke für das Kind.
Der Zug hatte kaum beschleunigt, da hielt er schon wieder. Das war Jena-Paradies. Otto setzte sich hin, als der Zug erneut losfuhr. Kaum jemand hatte den Zug verlassen. Ein paar Leute waren eingestiegen. Niemand weckte sein Interesse.
Er kannte die Strecke gut. Der nächste Halt war Jena-Göschwitz, von dort war es nicht weit bis zu ihrer Wohnung. Auch hier wenig Bewegung im Zug. Dann verließen sie die Stadt.
Die Landschaft veränderte sich. Grün, Landwirtschaft, ein wenig Wald. Rothenstein war ein Dorf. Der Zug hielt. Otto sah den markanten roten Felsen. Die junge Mutter stieg aus und wurde auf dem Bahnsteig von einer Frau empfangen, die doppelt so alt war. Ihre Mutter, dachte Otto.
Kahla war der nächste Bahnhof. Die Fahrt mit diesem langsamen Personenzug dauerte sechs Minuten von Rothenstein nach Kahla. Otto fragte sich, woher er das wusste. Es war vielleicht eines dieser Dinge, die man lernte und nicht wieder vergaß.
Vor Kahla hatten sie den Macamo aus dem Zug geworfen. Weniger als drei Leute konnten das nicht gewesen sein, das war nach Günters Beschreibung klar. Und Kahla war die erste Haltestelle, an der sie den Zug verlassen haben konnten.
Der Zug rollte im Bahnhof ein. Otto verstand nicht viel von Architektur, aber dass der kleine Ort recht alt war, konnte man sehen. Auf dem Bahnsteig standen zwei Jungs, die noch nicht volljährig waren. An die Wand des Bahnhofsgebäudes gelehnt, rauchten sie. Sie stiegen nicht ein. Ein Mann in seinem Alter, den Otto schon einmal gesehen hatte, den er aber nicht einordnen konnte, setzte sich ein paar Meter von ihm entfernt hin und zündete sich eine Zigarette an. Otto tat es ihm gleich.
Der Zug setzte sich wieder in Bewegung. Orlamünde war der nächste Halt. Hier hatten sie Macamo noch festgehalten. Warum hatten sie ihn überhaupt in dem einen Moment losgelassen? Weil sie aussteigen wollten. Weil sie gemerkt hatten, dass er tot war. Weil es ihnen egal war, ob er tot war oder lebendig. Weil ihnen die Arme lahm wurden. Er würde es nicht schaffen, den Mord zu rekonstruieren, dachte er.
Zwei Möglichkeiten gab es, diesen Leuten trotzdem einen Schritt näher zu kommen. Finde sie über den Ort, an dem sie den Zug verlassen haben. Oder über jenen, an dem sie die Fahrt angetreten haben. Wenn er richtiglag und die Züge, die Saalfeld am Nachmittag verließen, nicht in Frage kamen, dann blieb nur die 20.53-Uhr-Verbindung. Und die endete an Sonntagen am Saalbahnhof in Jena. Da blieben also mit Kahla und Rothenstein und den drei Jenaer Bahnhöfen nur fünf, an denen sie ausgestiegen sein konnten.
Aber die Ermittlungen waren ja eingestellt. Morgen früh würden sie die Dokumente vorbereiten für den Radunek und seinen Selbstmord und auch die für den Jungen, den sie im Wald gefunden hatten. Otto hatte dessen Namen schon lange vergessen.
Er stieg in Orlamünde aus. Er würde sich hier ein spätes Mittagessen suchen und dann wieder zurückfahren. In seinem Kopf rauschte es noch.