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27.10.1983
Die Unterlagen rund um den Tod des Schülers Proschke im Wald bei Eisenberg zu komplettieren hatte den ganzen Mittwoch gekostet und auch noch den Donnerstagmorgen. Die Arbeit war liegengeblieben, als die Leiche von Teo Macamo aufgetaucht war. Am Mittwochabend hatte Otto sich vor Birgits Betriebsversammlung gedrückt. Er hatte die Kinder ins Bett gebracht.
Rolf saß über den Akten des Falles Radunek. Hier wie beim Fall Proschke waren die Handelnden tot, es waren also keine Prozesse vorzubereiten. Das erleichterte die Arbeit, denn die Akten waren für das Archiv bestimmt. Trotzdem musste sie sorgfältig erledigt werden. Man wusste im Voraus nie, wer sie wann noch einmal ansah, und aus welchem Grund.
Otto war allein im Büro der MUK
und war froh, dass Konnie und er diese Sache in Eisenberg übernommen hatten. Manche Vermisstenanzeige war bereits gegenstandslos, bevor man an den Ort kam, wo sie angenommen worden war. Irgendjemand hatte sich verlaufen oder einfach nur Angst, dort aufzutauchen, wo er erwartet wurde. Dann nahm man die Sache auf und protokollierte sie. Überprüfte vielleicht, ob etwas vorlag, das von übergeordnetem Interesse war, und meldete es an die Stellen, die sich darum zu kümmern hatten.
Bei einem Schüler konnte es ja sein, dass er etwas
ausgefressen hatte und sich nicht in die Schule zurück traute. Ein Eigentumsdelikt oder auch etwas Politisches wie eine vorbereitete Republikflucht. Darum kümmerten sich dann andere. Oder vielleicht war auch irgendetwas mit einem Mädchen gewesen. In der DDR
wurde es eben wichtig genommen, wenn jemand verschwand. Da standen die Behörden dann in der Pflicht. Und deshalb wurden sie von der MUK
geschickt. Im schlimmsten Fall, im allerschlimmsten natürlich nur, hatte sich die vermisste Person etwas angetan. Oder ihr war etwas angetan worden. Dann waren sie schon vor Ort und an der Arbeit.
Eine kluge Aufteilung von Verantwortlichkeiten war das. Und gerade in diesem Fall, wie es sich erwiesen hatte, wenn auch aus ganz anderen Gründen. So waren Konnie und er von der Arbeit an der Sache Radunek weitgehend befreit. Sie hatten mit Rolf nur ein paar Sachen abzustimmen, weil sie den Radunek ja in dieser Kneipe aufgegriffen hatten.
«Was hat der noch mal gesagt?» Rolf kam herein und setzte sich hinter seinen Schreibtisch. «Als ihr den festgenommen habt?»
«Steht das nicht in deinen Unterlagen?»
«Doch, aber ich frage dich eben noch mal.»
«‹Ich hätte es früher tun sollen›, glaube ich.»
«Hier steht ‹Ich hätte es viel früher tun sollen›.»
«Wenn es da steht», sagte Otto. «Warum ist das wichtig?»
«Weil ich versuche, es so darzustellen, dass der Radunek nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte.»
«Aber das ist doch klar.»
«Ja, aber wir müssen den doch als absolute Ausnahme darstellen.»
«Und was willst du da von mir? Du kannst doch sowieso schreiben, was du willst.»
«Aber das in der Kneipe, das können ja Leute gehört haben.
Es ist immer gut, wenn es so nah wie möglich an der Wahrheit ist.»
«Und wie willst du das mit dem Selbstmord von Frau Radunek darstellen?»
«Daran arbeite ich noch.»
«Eins musst du noch bedenken …»
Rolfs Gesicht war ein Fragezeichen.
«Wenn der Radunek wirklich einen an der Waffel gehabt hat, ja?»
Rolf wartete.
«Also, wenn … Wie kommt es dann, dass der Betriebsgewerkschaftsleiter war? Das ist doch eine verdammt verantwortungsvolle Position. Da wirst du doch beobachtet. Und zwar ziemlich genau.»
Rolf nickte, während Otto redete. «Meinst du, das weiß ich nicht? Aber ich habe ja auch noch einige Tage Zeit für die Akte. Und es wartet ja auch niemand wirklich darauf.»