63 | MO 31.10.1983
Auf dem Weg nach Zeitz ärgerte sich Otto über das verschwendete Wochenende. Er war mit Konnie unterwegs über die Bezirksgrenze hinweg, weil die Genossen von der Morduntersuchungskommission in Halle um Unterstützung gebeten hatten. Eine vermisste Person. Von Halle waren es fast achtzig Kilometer nach Zeitz, da wären selbst die Leute von der MUK im anderen Nachbarbezirk aus Leipzig schneller in der kleinen Stadt gewesen. Und von Gera fuhren sie kaum eine halbe Stunde. In Halle hatten sie gerade offenbar alle Hände voll zu tun. Ein junger Kollege hatte sich schon auf den Weg gemacht und wollte sie vor Ort treffen.
Otto lenkte den eigenen Lada und ärgerte sich. Am Vortag war im Grunde genommen Zeit genug gewesen, um abends in Saalfeld die Bahn zu nehmen, in der der Macamo gesessen haben musste, die um 20.53 Uhr. Zeit auch, um sich vorher auf dem Bahnsteig umzusehen. Zu schauen, wer um diese Uhrzeit noch unterwegs war mit den Bahn.
Stattdessen hatte er am Sonntag wieder mit Bodo bei den Eltern gesessen. Nachmittags diesmal, Mutter hatte Pflaumenkuchen gebacken. «Du bist irgendwie abwesend», hatte Vater gesagt, als er einen Sahnerest mit dem Finger vom Teller gewischt und den Finger dann abgeleckt hatte. Bodo hatte gelächelt, Mutter keinen Ton von sich gegeben.
Ein ruhiges Wochenende war es gewesen, das erste dieser Art nach einer ganzen Weile. Er hatte zweimal ordentlich geschlafen. Birgit und er und die Kinder hatten einen schönen Samstag miteinander verbracht, waren gemeinsam im Kino gewesen und hatten einen sowjetischen Märchenfilm gesehen. Und dann hatte er Bodos Idee zugestimmt, statt des Mittagessens bei den Eltern gemeinsam Kuchen zu essen.
So genau wusste er gar nicht mehr, worüber sie geredet hatten. Über alles, wie immer. Vater hatte von diesem Sänger aus dem Westen geredet, Lindenberg, und von dessen Sprache, die er nicht verstand. Mutter hatte von den jungen Leuten gesprochen, die eben anders seien. Und man solle doch froh sei, dass sich die aus dem Westen mal mit der DDR beschäftigten, auch wenn es nur für einen Tag sei, wenn dieser Sänger im Palast der Republik auftrete. Bodo hatte kurz geschielt, wie er das schon als Kind gemacht hatte, wenn er fand, dass die Eltern über Dinge sprachen, von denen sie nichts kapierten, und hatte dann abgelehnt, darüber zu reden, was er gerade machte. Wie fast immer eigentlich. Was erwarteten die Eltern auch von einem Sohn, der als Geheimdienstler arbeitete?
Und Otto hatte ganz langsam diese Furcht in sich wachsen gespürt. Nichts, was er hatte benennen können.
Nicht beim Pflaumenkuchen und nicht in Gesellschaft von Bruder und Eltern.
Vor allem nicht in ihrer Gesellschaft.
Er hatte gespürt, dass er am falschen Ort war. Für den Abend hatte er Birgit und den Kindern auch schon ein gemeinsames Abendessen versprochen. Und hatte am elterlichen Tisch also schon gewusst, dass er nicht nach Saalfeld fahren konnte.
Nein, ich bin nicht abwesend. Das hätte er antworten können, als er an den Macamo dachte und nicht an den Kuchen, den er gerade in sich hineinstopfte. Wie kann ich abwesend sein, dachte er, wenn ich mir vorstelle, dass wir die, die den Macamo ermordet haben, davonkommen lassen?
«Ist was?», fragte Konnie, als sie das Ortseingangsschild von Zeitz erreichten. Otto erschrak. «Du hast den ganzen Weg über keinen Ton gesagt.»
«Du doch auch nicht.» Otto war froh über seine schnelle Antwort. Konnie setzte jedenfalls nicht nach.
Der Uniformierte, der sie auf dem Parkplatz hinter der Wache in Zeitz begrüßte, machte auch nicht viele Worte. «Die Kollegen aus Gera. Ja … Wir haben den schon, den Vermissten.» Er ließ eine kleine Pause zwischen den letzten beiden Worten. Und dann noch eine längere, bevor er weiterredete. «Hat zu viel getrunken und seine Wohnung nicht mehr gefunden. Alles in Ordnung hier.»