64 | DI 1.11.1983
Schräg gegenüber vom Buchladen war es mittags unübersichtlich. Studenten kamen aus der Universität, standen in Gruppen zusammen und diskutierten. Einige packten mitgebrachtes Essen aus. Otto hatte sich hinter eine Gruppe junger Frauen gestellt und den Eingang im Blick, ohne vom Laden aus gesehen werden zu können.
«Ich weiß ganz genau, wer das ist. So einer im Anzug.» Marion hatte noch einmal von dem Bücherdieb erzählt. «Der kommt, glaube ich, immer mittags. Dann sind welche von uns in der Pause, aber der Laden ist ja nicht leer. Im Gegenteil.»
Otto versuchte, die Unterhaltung der drei Frauen zu ignorieren, aber schaffte es nicht ganz. Er kam sich etwas verloren vor an dem Platz, an dem er stand, aber solange ihn die drei verdeckten, war seine Situation zu ertragen.
«Sie sind unglaubwürdig», sagte eine der drei Frauen. Sie trug Rock und Bluse, eine große Brille und schwere Ohrringe, die unter einer blonden Helmfrisur hervorguckten.
«Diese Theorien?» Die zweite. Zu weite Jeans und beiger Pullover. Braune Locken. Sie biss in eine Stulle.
«Ja …» Die dritte atmete heftig. «Wenn man überlegt, wozu das führt», sagte sie. Ihre in Stufen geschnittenen blonden Locken wippten beim Reden. «Das ist das Problem des Kapitalismus. Da ist Krieg ganz natürlich immer die letzte Option.»
«Oder die allernächste», sagte die mit dem Helm.
Weghören wäre schön. Otto ging einen Schritt nach hinten und wartete in einem Hauseingang, als er auf der anderen Straßenseite einen Jungen sah, dessen schwarzer Anzug nur scheinbar zur Umgebung passte. Er wirkte zu oft getragen, die Lederschuhe dazu waren schiefgelaufen. Der Junge drehte den Kopf und überprüfte die Umgebung, Otto drehte sich kurz weg und zählte langsam bis fünf. Dann blickte er wieder auf die andere Straßenseite. Der schwarze Anzug verschwand gerade im Buchladen.
Eine Aktentasche wünschte sich Otto herbei oder etwas anderes, das ihn als zugehörig auswies. Er kam sich vor wie ein Polizist im Einsatz, als er auf den Laden zuging. Hinter der Schaufensterscheibe sah er Marion an der Kasse. Ein Student kaufte irgendetwas. Als sie ihm Wechselgeld in die Hand drückte, nahm sie Otto wahr. Sie verdrehte die Augen und sah dem schwarzen Anzug hinterher, der gerade vor einem Regal stand und den Kopf nach oben reckte.
Otto blickte zurück und hielt kurz die geöffneten Hände vor sich. Ich bin ja da.
Als der Student, den Marion bedient hatte, den Laden verließ, drückte sich Otto durch die offene Tür. Er griff sich einen Bildband von einem Stapel, der gleich vorn auf einem Tisch lag, lehnte sich an ein Regal und schlug das Buch auf, ohne hineinzusehen. Neben ihm streckte sich ein Kollege von Marion in die Höhe und rückte Bücher zurecht. Immer noch starrte der Junge im Anzug auf die Auslagen vor ihm. In der Hand hielt er schon ein paar Bücher.
Der Anzug glänzte an den Schultern, den Ellbogen und am Hintern. Und er war ein gutes Stück zu weit. Sicher hatten ihn andere vor dem Jungen getragen.
Eine schnelle Bewegung ging durch den Körper im Anzug. Otto blickte genauer hin. Wahrscheinlich hatte ihn nur etwas gejuckt. Eine ganze Traube von Leuten kam in den Laden. Da zuckte der Junge erneut. Otto ging mit seinem Bildband tiefer in den Laden hinein. Dann drehte er sich zur Seite und blickte in das Buch, das er in der Hand hatte. Es ging um Seen in der Sowjetunion.
Nur am Rande nahm er wahr, dass der Junge erneut zitterte, und fokussierte ihn dann genauer. Der Blick immer noch nach oben gerichtet, hatte er nur noch zwei Bücher in den Händen. Waren das eben nicht mehr gewesen?
Der Junge sah sich um. Otto betrachtete einen See, an dem er nie selbst stehen würde. Als er erneut aufblickte, kam die eine Hand des Jungen wieder aus dem Jackett heraus. Er hielt nur noch ein einziges Buch. Und das legte er ins Regal zurück. Dann drehte er sich langsam. Und Otto erkannte, dass der Anzug nicht ohne Grund so weit war. Die Jacke hing jetzt schwer, sie hatte mehr Volumen als der Oberkörper des Jungen, dessen Gesicht er gut erkennen konnte. Dünn. Älter, als er auf den ersten Blick wirkte. Die letzte Rasur vor zwei Tagen. Eigentlich war der Junge gar kein Junge mehr. Er sah mehr aus wie ein Mann, der nie genug zu essen hatte. Und er war schon an der Tür.
Otto musste kurz überlegen. Er hatte nicht damit gerechnet, dass er dem Bücherdieb begegnen würde. Er hatte aber auch noch nie jemanden gesehen, der Bücher klaute. Bevor der Dieb im Gewimmel auf der Straße verschwand, eilte er hinterher. Im Augenwinkel sah er Marion, die ihn mit großen Augen anstarrte. Vielleicht hatte sie erwartet, dass er den Dieb im Laden zu Boden werfen und ihm ein paar Backpfeifen geben würde. Und ihn dann in Handschellen gedemütigt abführte.
Der Anzug war schon an der nächsten Ecke. Richtung Norden. Er verschwand schnell über die Goetheallee hinweg in der Zwätzengasse. Dann verlangsamte er das Tempo und ging zuerst nach links und dann rechts um ein paar Ecken herum. Immer im Wechsel. Otto stoppte an jeder der Ecken kurz, bevor er um sie herum blickte, und hoffte, dass er den Dieb nicht schon verloren hatte. Sie waren jetzt ganz in der Nähe vom Feldeck , wo Konnie und er Radunek aufgegriffen hatten.
Als er an einer bröckelnden Häuserwand hielt, merkte er, dass er die Seen in der Sowjetunion immer noch in der Hand hielt. Er steckte den Kopf um die Ecke und fluchte. Der Dieb war weg. Wahrscheinlich wohnte er hier irgendwo. Langsam schritt er die Häuser ab und guckte hoch in der Hoffnung, dass sich ein Fenster öffnete oder wenigstens eine Gardine aufgezogen wurde.
An der nächsten Ecke drehte er sich einmal um die eigene Achse. Er hatte den Mann verloren.
Was für miserable Polizeiarbeit.
Otto warf einen Blick auf den Bildband in seiner Hand und fragte sich, ob er das Buch zurückbringen sollte. Dann musste er auch zugeben, dass er den Dieb hatte ziehen lassen. Keine schöne Aussicht. Er zögerte noch einen Augenblick, als er den Anzug aus einem Kellerlokal kommen sah. Schnell drehte sich Otto weg, klemmte den Bildband unter einen Arm und zündete sich eine Zigarette an. Er sah, wie der Anzug davonging. Die Jacke flatterte im Wind.
Als der Dieb hinter der nächsten Ecke verschwand, stand Otto schon vor dem Kellerfenster. Es war ein dunkler Laden, und im Fenster waren alte Bücher ausgestellt. «Antiquariat» stand auf einem Plastikschild über der Tür.