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Das Wohnzimmer wirkte auf Otto, als sei es vor dem Krieg eingerichtet worden. Das kleine Sofa, auf dem er saß, hing fast bis zum Boden durch. Der Tisch hatte abgeschabte Holzränder. Und der Hirsch auf dem naiven Gemälde an der Wand beobachtete das alles gelassen. In der Küche floss Wasser in einen Kessel. Die Frau, sie hieß Josefa Krahmer, Krahmer mit h, entzündete ein Streichholz.
Das Einzige, was das Bild störte, war der Fernseher auf der Kommode. Als Otto sich drehte, entdeckte er noch einen Gruß aus der Moderne. Eine Uhr stand neben dem Bildschirm, weißes Plastikgehäuse, gerade fiel das rechte Zifferblättchen herab. 38 stand darauf. Die 08 daneben blieb still. Das war ein Gerät aus dem Westen. Das Wasser im Kessel begann zu pfeifen, bald würde sie den Kaffee auf den Tisch tragen.
Die alte Frau fuhr also in den Westen, wie andere Alte auch. Und sie hatte diesen Wecker mitgebracht. Hatte sie ihn aus eigenem Antrieb gekauft? Eher hatte ihr dort jemand das Stück geschenkt. Ein Westgerät, leicht als solches zu erkennen, geschenkt, um zu imponieren, aufgestellt zu dem gleichen Zweck.
Oder es war etwas Mitgebrachtes. Aber wer sollte einer alten Frau ein solches Stück mitbringen? Alte Freunde? Kaum. Engere Familie konnte es nicht sein, die war hier, wenn sie reisen durfte – sonst durfte sie es eben nicht.
Frau Krahmer kam mit einer Kanne und zwei Tassen. Sie goss in beide ein und setzte sich, ihre großen freundlichen Augen auf Otto gerichtet. «Sie waren das», sagte sie.
Otto nickte und erkannte seinen Fehler. Er hatte sich ins Wohnzimmer bringen lassen, statt ihr in der Küche auf den Zahn zu fühlen. Was er ihr gegeben hatte, war die Zeit, die sie brauchte, um sich zu sammeln.
«Fahren Sie jeden Sonntag mit dem Zug von Saalfeld nach Jena?», fragte Otto.
«Oh ja.» Sie schaute kurz an die Decke. Sie überlegte. Oder sie tat so, als ob. «Fast jeden Sonntag.»
«Familie?»
«Wegen den Enkeln.» Sie lächelte ein schönes Lächeln.
Als Otto ihr Zeit ließ, weiterzureden, nutzte sie sie. «Die Eltern arbeiten verschiedene Schichten. Mein Sohn und seine Frau brauchen am Wochenende jemanden für die Kinder.»
Lass sie erst reden, dachte Otto. Vielleicht gibt sie etwas preis. Aber seine Hoffnung war klein. Den Fehler, den er gemacht hatte, konnte er kaum ausbügeln. Sie wusste, was sie sagen würde. Er konnte es in ihrem Ausdruck sehen. «Und was machen Sie dann mit den Kindern?», fragte er.
«Ach, das Übliche. Ich bin eben da. Und ich koche für sie. Und wir gehen auf den Spielplatz. Aber dafür sind sie bald schon zu groß. Die größte ist bald zwölf.»
«Und die anderen?»
«Neun und acht. Sie sind so … Schade, dass mein Mann das nicht erleben kann.»
Otto hatte noch keine Fotos auf Kommoden oder an der Wand gesehen. Weder von den Kindern noch vom Ehemann, der, wie er vermutete, verstorben war.
«Und wenn Sie mit dem Zug fahren, nehmen Sie dann immer den um kurz vor neun?»
«20.53 Uhr», sagte sie nickend. «Meistens. Dann haben wir alle zusammen zu Abend gegessen. Aber manchmal nehme ich auch einen früheren. Das hängt ein bisschen ab von der Arbeit, die anfällt. Wann sie zurückkommen, mein Sohn und seine Frau. Dann nehme ich auch manchmal den um 17.51 Uhr. Und es gibt sogar einen, der geht noch früher. Das kommt dann ganz darauf an.»
«Und die Fahrt mit dem Zug ist dann meistens eher ruhig? Es ist ja Sonntagabend. Da passiert ja nicht so viel.»
«Ja, da ist meistens nicht viel los.»
«Und wenn doch?»
«Ach, eigentlich ist selten was.»
«Haben Sie in den vergangenen Wochen einmal irgendetwas bemerkt, das nicht wie immer war?»
Sie blickte wieder hoch zur Zimmerdecke. «Nein, da erinnere ich mich an nichts.»
«Gab es denn Wochenenden, an denen Sie nicht nach Saalfeld gefahren sind? Sagen wir … In den letzten zwei Monaten?»
Der Blick zur Decke. «Nein», sagte sie. «Das letzte Mal, dass ich nicht gefahren bin, das war im … lassen Sie mich überlegen. Das war im August. Nein, Anfang September, da waren mein Sohn und die Familie schon wieder aus den Ferien zurück. Und da war ich krank. Eine Sommergrippe. Es ging einfach nicht.»
«Können Sie sich denn erinnern an den Sonntag vor fünf Wochen?»
Frau Krahmer guckte zur Decke.
«Das war der 9. Oktober», schickte Otto hinterher.
«Wenn man so zurückdenkt, dann unterscheiden sich die Sonntage nicht so sehr. Wissen Sie, mein Sohn bringt mich mit dem Wagen zum Bahnhof, wenn er Zeit hat. Sonst nehme ich auch schon mal den Bus von Gorndorf. Meine Schwiegertochter hat auch gar keine Fahrerlaubnis. Und wenn mein Sohn arbeitet, dann hat er den Wagen ja auch immer dabei. Und wenn ich dann im Bahnhof bin, dann ist ein Sonntag wie der davor.» Diese freundlichen Augen. Omablick. Gut zu Kindern.
«Und der danach auch», schob sie noch hinterher.
«Das kann ich mir vorstellen. Einer wie der andere. Außer wenn man mal durchnässt wird vom Regen. Oder wenn der Zug mal zu spät kommt.»
«Das gibt es nicht so oft.»
«Nein. Das passiert nicht so oft. An diesen 9. Oktober erinnern Sie sich also …»
Sie schüttelte den Kopf sehr entschieden.
Otto trank seinen Kaffee aus.
«Sie sind ein netter Mann», sagte Frau Krahmer, als er sich gerade erhoben hatte.
«Danke.» Otto fühlte sich wie ein Verlierer. Er hatte sich von dieser Frau aufs Glatteis führen lassen. Aber es gab noch andere Tage. «Ich finde allein hinaus.»