76 | FR 18.11.1983
Otto hatte den Donnerstag verstreichen lassen, ohne in der Lutherstraße auf Frau Krahmer zu warten. Den einen Tag gab er ihr. Er wusste, dass sie sich nach ihm umgedreht hatte an diesem Morgen. Und nicht nur einmal. Auf dem Weg zum Einkauf. Mit ihrem leeren Netz.
Zwei Minuten vor halb acht war es schon. Der Lada stand hinter der Ecke, und Otto hatte gerade noch einen freien Blick bis zur Haustür. Er versteckte sich nicht vor Josefa Krahmer, er hatte nur seinen Blickwinkel verändert. Und so wie sie ihn gestern nicht gesehen hatte, als sie das Haus verließ, so würde sie auch heute vergebens nach ihm suchen.
Es sei denn, sie dachte einen Schritt weiter.
Es sei denn, sie hatte gute Augen.
Viertel vor acht. Erwachsene und Kinder zu Fuß unterwegs. Otto musste achtgeben, dass Frau Krahmer nicht in irgendeinem Pulk verborgen war. Kurz nach acht war die Lutherstraße dann wieder leerer. Er war sich sicher, dass er Frau Krahmer nicht verpasst hatte.
Die Stimmung in der MUK war nicht gut gewesen in den letzten vier Wochen. Rolf hatte lautere Sprüche von sich gegeben als sonst. Heinz war eher einsilbig aufgetreten. Günter hatte in Besprechungen immer wieder versucht, Augenkontakt zu Otto herzustellen. Ich weiß, dass du recht hast, sagte sein Blick. Aber was sollen wir machen, fragten seine Augen auch. Eine ordentliche Morduntersuchung würde ihnen guttun, aber so etwas konnte man sich weder wünschen noch aussuchen.
Da kam sie aus dem Haus. Kurzer Blick zur einen Seite, dann zur anderen, und Frau Krahmer war mit ihrem Einkaufsnetz auf dem üblichen Weg.
Otto startete den Lada und fuhr ihr hinterher. Heute hatte er einen klaren Plan. Am Ende der Lutherstraße war er mit dem Wagen kaum fünf Meter hinter Krahmer und folgte ihr in die Blumenstraße und die Jahnstraße bis vor das Universitätskrankenhaus. Sie ging stoisch wie ein Uhrwerk und merkte nicht, dass er hinter ihr war. Oder sie ignorierte das Motorgeräusch.
An der nächsten Ecke hielt sie kurz. Blickte sich flüchtig um und hatte den Fuß schon angehoben, um weiterzugehen, als sie sich noch einmal umdrehte, um sich zu vergewissern. Otto sah, wie ihr der Schreck durch die Glieder fuhr, als sie ihn in seinem Wagen erkannte. Sie blickte wieder nach vorn, blieb aber stehen. Dann wandte sich Frau Krahmer langsam um. Durch die Windschutzscheibe konnte Otto ihre Tränen sehen. Er stellte den Motor ab und stieg aus, nahm Josefa Krahmer am Arm, öffnete die Beifahrertür des Lada und half ihr auf den Sitz. Er fuhr los, ohne ein Ziel zu haben, während die alte Frau neben ihm hemmungslos weinte.
Erst als er an den Saaleauen gegenüber dem Stadion angekommen war, stoppte er den Wagen und wartete.
Er dauerte mehrere Minuten, bis Frau Krahmer mehrmals die Nase hochzog und in ihrem Mantel nach einem Taschentuch suchte. Sie nahm die Brille ab und fuhr sich mit dem Taschentuch über die Augen. Dann schnäuzte sie sich.
Otto schwieg. Die Zeit war auf seiner Seite.
Es dauerte einige Minuten, bis sich Frau Krahmer vorsichtig räusperte. Er bemerkte, dass sie den Kopf zu ihm drehte. «Wollen Sie nicht etwas fragen?»
«Habe ich schon. Alles ist gefragt.»
Sie atmete tief ein und noch tiefer, bevor sie dann redete. «Ich habe nicht alles gesehen.»
«Haben Sie weggeguckt?»
Otto hörte sie schlucken. «Ich habe mich irgendwann so gesetzt, dass ich sie nicht sehen konnte.»
«Aber was haben Sie denn gesehen?»
«Wie sie den Neger verprügelt haben.»
«Und dann?»
«Dann habe ich mich auf die andere Bank gesetzt. Gegenüber.»
«Sie waren im selben Waggon?» Otto wandte sich Krahmer zu.
Leicht nickend sagte sie: «Aber ganz am anderen Ende.»
«Waren noch andere Leute im Waggon?»
Als sie nicht antwortete, sagte er: «Außer Ihnen und denen …»
«Nein.»
«Und der Schaffner?»
«Der ist gar nicht gekommen.»
«Wie viele waren das denn?»
«Die waren zu viert.»
«Vier Männer.»
«Ja. Jungens, die waren ja kaum erwachsen.»
«Und was haben Sie noch gesehen? Bevor Sie sich umgedreht haben? Wie hat das überhaupt angefangen?»
«Die sind reingekommen und zu dem gegangen.»
«Direkt? Ohne zu zögern?» Es war dunkel gewesen, dachte Otto. Vielleicht hatten sie Macamo im Licht des abbremsenden Zuges sitzen gesehen.
«Direkt. Ja.»
«Und wo war das?»
«In Schwarza.»
«Da sind die eingestiegen.»
«Ja.»
«Alle zusammen?»
«Ja, und ich glaube, die hatten etwas getrunken.»
Josefa Krahmer verschränkte ihre Hände.
«Die sind also auf den zu und haben … was?»
«Die haben den beschimpft.»
«Wie?»
«Mit Worten.»
«Ja, aber mit welchen?»
«Das … das ging alles so schnell.»
«Und dann?»
«Dann habe ich mich auf die andere Seite gesetzt.»
«Aber Sie haben gehört, was hinter Ihnen geschehen ist.»
«Sie haben den geschlagen.» Sie machte eine kleine Pause. «Sie haben den schon geschlagen, bevor ich mich umgedreht habe.»
«Ohne irgendwas zu sagen?»
«Ja.»
«Und was hat der Schwarze dazu gesagt?»
Sie nahm sich Zeit, bis sie antwortete. «‹Nein›», hat er gesagt. «‹Nein, nicht.›»
«Das war alles?»
«Ja. Dann konnte der nichts mehr sagen, glaube ich.»
Otto wartete.
«Weil die den so geschlagen haben.»
«Und dann … was ist dann passiert?»
«Ich habe mir die Ohren zugehalten.» Josefa Krahmer senkte den Blick. Otto sah Tränen auf ihren Mantel fallen.
«Was haben Sie denn noch bemerkt?»
Sie schüttelte den Kopf. «Ich habe mir doch die Ohren zugehalten.»
Otto glaubte ihr nicht. Aber das war auch nicht, was ihn gerade interessierte. Günters Rekonstruktion war ihm noch deutlich genug im Gedächtnis.
Wirklich wichtig war deshalb eine andere Sache. «Haben Sie einen von denen erkannt?»
Sie schüttelte den Kopf.
«Können Sie sie beschreiben?»
In ihrem Tränenstrom nickte Josefa Krahmer. «Einen von denen», sagte sie leise.