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«Manchmal denke ich, dass du eine Geliebte hast», hatte Birgit gesagt, als die Kinder schon auf die Haustür zugerannt waren. «Aber ich weiß ja, wie wichtig deine Arbeit ist.» Dann hatte sie ihm einen Kuss gegeben. Mit Zunge, das hatte sie lange nicht getan. Otto hatte sich überrumpelt gefühlt und nicht gewusst, was er tun sollte. Er hatte den Kuss erwidert und war davongefahren.
Es regnete und er musste vorsichtig sein. Kurz stellte er sich vor, mit dem Wagen von der Straße abzukommen. Wie ihn das in Erklärungsnot bringen würde. Und? Was hast du da gemacht um diese Zeit? Er würde noch genug zu erklären haben, wenn er denen wirklich auf die Spur kam. Darüber hatte er sich noch gar keine Gedanken gemacht. Aber das war ein Problem von morgen. Oder übermorgen. Oder noch später.
Der Parkplatz vor dem Bahnhof in Schwarza war fast leer. Otto rannte auf den Bahnsteig. Es war sechs Minuten vor fünf. Er sah auf dem Fahrplan, dass der Zug in elf Minuten abfuhr. Wenn er pünktlich war.
Im Moment war Otto noch allein. Aber er hörte schon einen Wagen bremsen. Türen klapperten, der Motor wurde wieder lauter. Ein Mann in seinem Alter erschien und zündete sich ein paar Meter neben ihm eine Zigarette an. Er sah aus wie ein Repräsentant der Partei. Untere Ebene, stramme Haltung, blonder Schnurrbart unter großer Nase. Der blaue Anzug war den ganzen Tag getragen worden und hatte schon ein paar Regentropfen abgekriegt. Polizist konnte er auch sein. Aber dann würde er ihn kennen. Ein zweiter Mann erschien, schwer, nasse Schultern und Tropfen auf der fast nackten Schädelplatte. Seine Kunstlederjacke war an der Hüfte zu eng.
Der Zug fuhr ein.
Während der Schwere die drei Waggons mit den Augen absuchte, starrte der mit dem Anzug vor sich hin. Er wartete, bis der Zug stand, dann überbrückte er mit einem Schritt den Abschnitt am Gleis, der nicht überdacht war, öffnete die Tür und war drinnen verschwunden. Eine junge Frau stieg aus dem Zug, winkte dem Mann mit der Kunstlederjacke zu. Die beiden umarmten sich und gingen nach draußen. Der Zug fuhr wieder ab.
Von den vieren hatte Josefa Krahmer einen beschreiben können. «Manchmal fahren wir ein paar Wochen lang jeden Sonntag ein Stück zusammen.»
Er stieg immer in Schwarza ein und immer in Göschwitz aus. Frau Krahmer saß dann stets schon im Zug, wenn er seine Fahrt antrat, und sie blieb noch ein paar Minuten lang sitzen, wenn er den Zug schon verlassen hatte. Und manchmal, wenn sie nicht den Abendzug um 20.53 Uhr nahm, sondern einen früheren, dann hatte sie ihn auch dort drin gesehen. Aber nur manchmal. Sie nahm ja auch meistens den späten Zug. Und nein, sie grüßten sich nicht. Sie hätte es vielleicht getan, hatte sie gesagt, aber der junge Mann beachtete sie gar nicht. Sie war ja auch nur eine alte Frau.
Ihre Beschreibung war etwas vage. Groß sollte er sein.
«Größer als ich?», hatte Otto gefragt.
Frau Krahmer hatte genickt und ihre Augen weit geöffnet. Gut, also deutlich größer.
Eher dreißig als zwanzig.
«Auf wie alt schätzen Sie mich?», hatte Otto gefragt.
Sie hatte geguckt und die Nase hochgezogen. «34?»
Das war gut, zwei Jahre zu viel, aber gut geschätzt.
Schlanke, vielleicht dürre Gestalt. Die Haare kurz.
«Wie kurz?», hatte Otto gefragt.
«Na, kurz eben.»
«So wie ich?»
«Nein, kürzer.» Dann hielt sie Zeigefinger und Daumen recht eng zusammen.
Bart?
Nein, eher nicht. Noch einmal nachdenken. Nein, kein Bart, ganz sicher nicht. Nur … sicher nicht gut rasiert.
Augen?
Phhhhh.
Das Gesicht?
«Ja, da war etwas», hatte sie gesagt.
Und Otto hatte gewartet. Ihr stumm eine Zigarette angeboten, die sie ablehnte. Und selbst hatte er auch nicht geraucht.
Frau Krahmer hatte eine Minute oder mehr gebraucht. «Da fehlt etwas.»
Otto hatte ihr Zeit gegeben.
Und noch ein bisschen später hatte sie ihn angesehen und gesagt: «Das Ohrläppchen ist es.» Sie hatte sich mit der rechten Hand an das linke Ohr gefasst, kurz innegehalten und dann das andere zwischen zwei Finger genommen.
Also rechts.
«Es fehlt.»
«Es ist nicht da?», hatte Otto gefragt.
«Nicht da …»
Der D-Zug Richtung Jena raste durch den Bahnhof.
«Das war der, der zuerst reingekommen ist», hatte Frau Krahmer gesagt.
Und dann noch: «Der hat dann auch sofort geschlagen.»
Otto ging unter dem Vordach auf und ab und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Nicht mehr ganz eine halbe Stunde bis zum zweiten Zug des Abends.
Auf dem anderen Gleis hielt der Zug in Richtung Saalfeld. Ein paar Leute stiegen aus, niemand ein. Der Regen ließ nach.
Der Mann ohne rechtes Ohrläppchen war normalerweise allein unterwegs. Egal zu welcher Uhrzeit. Die anderen aus der Gruppe waren sonst nicht bei ihm. Und nein, sie wusste nicht, was er in Schwarza machte. Oder ob er in Schwarza oder in Jena lebte. Wie auch. Die beiden redeten ja nicht miteinander. Aber sie hätte ja etwas bemerkt haben können, ein Wort gehört vielleicht, einen Hinweis, dachte Otto, als er sie trotzdem fragte. Etwas, das auf die eine oder die andere Stadt hinwies.
Gut zehn Minuten noch bis zum nächsten Zug. Der Bahnsteig war und blieb leer. Der Zug kam und fuhr ab. Zwei Leute stiegen aus. Otto ging zum Lada, setzte sich hinein, drehte die Scheibe herunter und rauchte.
Wenn jemand, auf den die Beschreibung zutraf, auftauchen sollte, würde er in den Zug steigen. Und wenn nicht … Er zog die Schultern zusammen und machte die Augen zu. Als er aufwachte, war es nach acht. Fast eine Stunde noch. In der Zwischenzeit musste ein Zug in die andere Richtung gefahren sein.
Ein anderer würde gleich ohne Halt durchfahren nach Saalfeld, das war der D-Zug. Und genau, da kam er schon.
Eine Familie mit drei Kindern erschien im Rückspiegel. Reisetaschen und Beutel, die beiden Kinder schleppten wie die Erwachsenen. Otto stieg aus und vertrat sich die Beine. Ein Schluck wäre genau das Richtige. Um wach zu werden. Um wachsam zu werden.
Es irritierte ihn, dass er nicht über den Fall reden konnte. Sie trugen immer alles zusammen in der MUK . Zuerst redete der eine, dann der andere. So ergab sich mal langsamer und mal schneller das Bild eines Falles. Es war so nützlich, den anderen die eigenen Erkenntnisse und Ideen mitzuteilen. Schon im Reden wurden die Konturen deutlicher sichtbar. In den Kommentaren und Nachfragen umso mehr.
Und jetzt?
Jetzt stand er allein auf dem Bahnhof in Schwarza. Er suchte einen Mann, den er nicht zur Fahndung ausschreiben konnte, weil ihr Fall kein Fall mehr war.
Eine zweite Familie kam fast rennend zum Bahnhof. Otto hatte gar nicht auf die Uhrzeit geachtet. Es war vier Minuten vor neun, und er konnte den Zug schon hören.
Der Mann, den er suchte, war nicht aufgetaucht.
Hätte er ihn erkannt? Aus der Nähe ganz sicher.
Otto ließ den Zug losfahren und wartete noch zwei Minuten ab, falls der Mann zu spät kam. Dann startete er den Lada.
Er war frustriert.