79 | DO
24.11.1983
Die Mittagssonne war ungewöhnlich warm für den späten November, und Otto suchte nach seiner Sonnenbrille, bevor er aus dem Lada ausstieg. Von der MUK
war er der Erste vor Ort. Günter hatte noch auf Heinz gewartet, die beiden würden bald ankommen. Rolf hatte einen Termin gehabt und würde sicher auch irgendwann auftauchen. Und Konnie verlebte seine letzten Urlaubstage an der Ostsee.
Ein Schutzpolizist wartete, wo sich Zaun und Straße trafen, und wies ihm die Richtung. Der Finger zeigte am Zaun entlang, der vielleicht zweihundert Meter lang war. «Und dann noch um die Ecke. Da ist es dann.» An jener Ecke erkannte Otto eine andere Gestalt in Uniform.
Er wusste, dass er gleich einen toten Jungen sehen würde. Mehr hatte er aus der Polizeistation in Neustadt nicht erfahren. Hier am Zaun um die Schweinemastanlage in Weira war ein dünner Pfad zwischen festem Maschendraht und Waldrand, den Leute getrampelt hatten. Es roch streng nach Scheiße und Dung und so gar nicht nach Wald, und aus dem Inneren der Hallen hinter dem massiven Zaun kam das ununterbrochene Röcheln der Tiere. Ein Arbeiter in Kittel und Mütze stand zwischen den Hallen und glotzte ihn an.
Der uniformierte Genosse, der an der Ecke des Zaunes wartete, rührte sich nicht, als Otto sich näherte. Erst als er
nur noch ein paar Meter entfernt war, wandte er sich zu ihm und bewegte den Arm. «Dahinten», sagte er steif und zeigte auf einen Ort, den Otto erst sah, als er den Schutzpolizisten erreicht hatte. Waldrand, wie rund um die ganze Anlage, einige geknickte Bäume. Mehrere Polizisten standen da. Otto zählte, es waren fünf. Einer sah ihn an, wie er zu ihnen stapfte, um zu der Gruppe und zum Auffindungsort zu kommen, die anderen hatten die Köpfe gesenkt.
Niemand von ihnen sagte auch nur ein Wort. Nur der, der ihn angeschaut hatte, ein Hauptwachtmeister, drehte sich und zeigte auf eine Stelle, einige Meter von ihrem Standort entfernt.
Otto stieg vorsichtig über ein paar Baumstümpfe. Als er eine kleine Erhebung unter seinen Füßen spürte, stellte er sich darauf, reckte den Hals und sah nackte Füße und Beine hinter dem Holz liegen. Und sein Geschlecht. Da waren nur wenige Haare unter dem Bauch, der Junge musste sehr jung sein. Einen halben Schritt machte Otto nach vorn, dann noch einen. Ganz friedlich lag er da. Wenn er nicht so nackt gewesen wäre, dachte er, dann hätte man ihn für schlafend halten können. Er suchte nach Wunden und Blut und Verletzungen der offensichtlichen Art, sah aber keine.
«Wer hat den gefunden?», fragte er in die Gruppe hinein.
«Die alte Frau Peukert mit dem Hund», sagte der Hauptwachtmeister. «Sie hat sich gewundert, dass der Hund nicht zurückkommt. Und da …» Er hob kurz die rechte Hand und drehte sie ein wenig, als würde das erklären, warum Frau Peukert dem Hund hinterhergegangen war.
An der Ecke des Zaunes tauchten Heinz und Günter auf. Günter mit seinem Koffer. Otto war erleichtert, sie zu sehen. Die beiden staksten grußlos zu ihnen hin. Als Heinz den Toten sah, verzog er das Gesicht. «So jung», sagte er. «Weiß man irgendwas?», fragte er und sah sich um.
Ein Schwein quiekte, als würde es gewürgt. Günter betrachtete den toten Jungen und blickte dann wortlos zu dem Schweinemastbetrieb hinüber, als bestünde ein Zusammenhang zwischen dem Quieken und dem Mord. Denn ein Mord musste es sein. So junge Menschen starben nicht einfach. Und wenn, dann hatten sie gewöhnlich etwas an.