81 | SO 27.11.1983
Otto drehte das Fenster des Lada herunter und warf den Zigarettenstummel hinaus. Es waren keine fünf Kilometer mehr bis Schwarza. Die letzten Tage waren frustrierend gewesen. Niemand hatte den Jungen an der Schweinemastanlage gesehen. Und wenn, dann hatte es niemand erzählt. Mehrere Vertreter westdeutscher Fleischfirmen hatten sich am Mittwoch und Donnerstag in der Gegend aufgehalten. Zwei von denen hatten sie auch noch in Hotels in Gera angetroffen. Sie hatten nichts zu erzählen gewusst, das ihnen helfen konnte. Die anderen beiden waren schon hinter der Grenze. Soweit es die MUK in Erfahrung bringen konnte, lag gegen die zwei Männer im Westen nichts vor.
Der Parkplatz vor dem Bahnhof war leer bis auf einen Wartburg-Kombi, in dem Otto ein paar leere Bierkisten sah. Es war zehn vor fünf, als er auf den Bahnsteig kam, und dieses Mal war er nicht allein. Vier junge Soldaten waren da, auf dem Weg zu ihrer Kaserne, die bei Rostock sein mochte oder wo auch immer. Wenn sie auf dem Weg dorthin waren, würden sie in Jena in den D-Zug umsteigen. Zwei der Soldaten wurden von ihren Eltern begleitet. Nachdem Otto sich eine weitere Zigarette angezündet hatte, ging er zurück zum Wagen und holte den Flachmann mit dem Weinbrand aus dem Handschuhfach. Er ließ einen kräftigen Schluck über die Zunge laufen.
Auch im Dörfchen Weira, nur ein paar hundert Meter vom Auffindungsort entfernt, und in Neustadt, einen Kilometer weit weg, hatte niemand den Jungen gesehen. Nicht am Morgen und nicht am Mittag. Als die Frau mit dem Hund unterwegs gewesen war, hatte der Junge möglicherweise noch keine zwei Stunden dort gelegen. Auch die Arbeiter der Schweinemastanlage waren befragt worden, dazu noch drei Fahrer, die Tiere zum Schlachthof in Saalfeld gefahren hatten, ein Veterinär, der für mehrere Mastbetriebe im Bezirk zuständig und am Donnerstagmorgen vor Ort war, ebenfalls. Ein Futtermittelfahrer war ihnen entgangen, als er am Freitag in den Urlaub in der Tschechoslowakei gestartet war. Er war nicht verdächtig, aber vielleicht hatte er etwas gesehen. Und dann hatten sie auch noch einen hochrangigen Genossen befragt, den stellvertretenden Vorsitzenden der SED im Bezirk. Er war an diesem Donnerstagmorgen für ein Planungsgespräch in der Anlage gewesen. Aber er war sowieso über jeden Verdacht erhaben.
Der Zug kam, die Soldaten stiegen ein, die Eltern verschwanden. Der nächste Zug hielt, die drei Leute, die gekommen waren, kletterten hinein, niemand kam heraus. Otto ging zum Lada und setzte sich hinter das Steuer. Zuerst zog er an einer frischen Zigarette, dann holte er den Flachmann wieder hervor. Er war besser vorbereitet als am letzten Sonntag.
Wie viel Zeit hatte er noch? Genug, um sich ein wenig auszuruhen. Er legte die Flasche auf den Beifahrersitz und döste. Der Junge am Waldrand kam ihm in den Sinn, wie es immer war, wenn er gerade einen toten Menschen gesehen hatte. Das Bild brennt sich eben ein, dachte Otto wieder. Wolf, der alte Kollege, bei dem er noch viel gelernt hatte, bevor er in den Ruhestand gegangen war, hatte immer betont, wie wichtig dieses Gefühl war angesichts des Unrechts, das einem anderen zugefügt worden war. «Das nennen sie nicht so in der Ausbildung, aber das ist eine der Grundlagen des Gesellschaftsvertrags in der Deutschen Demokratischen Republik.» So hatte er es gesagt. Er hatte nie DDR gesagt, auch dann nicht, wenn er in Eile gewesen war. Immer Deutsche Demokratische Republik. Ihm hatte das etwas bedeutet. Eine der Grundlagen war, das hatte er ein paarmal gesagt, dass man das Gefühl umsetzt, das man empfindet, wenn man einen Menschen sieht, der nicht tot sein sollte. Und dann hatte er immer das mit dem Gesellschaftsvertrag betont. «Die Leute haben ein Anrecht auf Sicherheit, deshalb geben wir ihnen Arbeit. Ihnen allen. Aber sie haben auch ein Anrecht auf diese andere Art von Sicherheit. Deshalb müssen sie wissen, dass wir einen Mord sehr, sehr schnell aufklären wollen und auch können. Das ist eines unserer Versprechen an sie.» Wolf hatte auch noch einen Philosophen zitiert, der das mit dem Gesellschaftsvertrag mal vorgebracht hatte. Aber Otto hatte vergessen, welcher von denen es gewesen war. Das war nicht seine starke Seite. Er schloss die Augen. Ganz kurz.
Ein Wagen bremste scharf neben dem Lada, und Otto wurde aus dem Schlaf gerissen. Der Mann, der aus der Beifahrertür des Škoda kletterte, war groß, so viel begriff er gerade noch. Auf seinem Rücken wippte ein grüner Rucksack. Otto schüttelte sich und drehte das Autofenster hoch. Dann rannte er dem Mann hinterher. Er sprang in die gleiche Zugtür wie der Mann und holte erst Luft, als der Zug losfuhr.