84 | MO 28.11.1983
Der Wochenbeginn war von seltener Ratlosigkeit geprägt. In der Morduntersuchungskommission gab es immer einen Hinweis, immer eine Idee, immer einen Weg, der sich auftat.
Nicht an diesem Montag. Rolf und Günter übernahmen die Aufgabe, einen Mann in Triptis zu überprüfen, der vor zwei Jahren einmal aufgefallen war. Er hatte vor einem Kindergarten gestanden und seine Hand so lange im Hosenschlitz gehabt, bis die Funkstreife gekommen war. Er hatte gesagt, er wollte nur pinkeln, aber konnte nicht erklären, warum er dann so lange vor dem Kindergarten gestanden hatte, wo seine Wohnung doch nur ein paar Minuten entfernt war.
Weil er oft keine Arbeit hatte, war er immer einer der Ersten, die man überprüfte, sobald es um irgendetwas mit Kindern ging. Und das war ja auch richtig. Irgendwo musste man ja anfangen. Otto hatte allerdings keine Hoffnung, dass diese Spur zu etwas führen würde. Und er war froh, nicht in Begleitung von Rolf zu sein. Ihm war es zuzutrauen, dass er den Mann mit der Hand im Hosenschlitz so heftig anging, dass er gestand. Und zwar egal was.
Otto war auf dem Heimweg und fragte sich, wie er weiter vorgehen sollte. Gleich musste er schon abfahren von der Autobahn. Konnie und er hatten tagsüber ein paar Leute aufgesucht, die irgendwann wegen verschiedener Sittlichkeitsdelikte aufgefallen waren. Alle hatten nachweisen können, wo sie am Mittwoch und Donnerstag gewesen waren. Auf der Arbeit natürlich.
Ein Genosse vom MfS aus Berlin, der darauf spezialisiert war, sich um Kontakte mit den Westbehörden zu kümmern, war auch auf den Fall angesetzt worden. Immerhin waren Leute aus dem Westen in Weira gewesen. Aber das würde dauern. Der Westen antwortete nicht sofort.
Auf dem Heimweg dachte Otto an Heiko Silber. Es hatte ihm keine Mühe bereitet, den Namen des Großen herauszufinden. Er war der Einzige in dem Haus in Winzerla, der je polizeilich aufgefallen war. Vor fünf Monaten war er auf einer Wache in Jena zum ersten Mal zugeführt worden. Wegen Rowdytums.
Einen Monat später dasselbe. Rowdytum. Dieses Mal geschehen in Erfurt. Und dann wieder zwei Wochen danach. Immer am Wochenende. Immer mit anderen in der Gruppe. Alkohol und Schlägereien. Ein viertes und letztes Mal war Silber am 9. Oktober in Schwarza zugeführt worden. Das war am Nachmittag gewesen, bevor Teo Macamo ermordet worden war.
Das Gleiche wie immer. Ein Gruppe junger Männer. Viel Alkohol. Am Ende eine Prügelei in der Innenstadt. Die Unterlagen stellten das nicht so deutlich dar. Und die andere Gruppe schien Reißaus genommen zu haben, niemand von ihnen war als Zeuge aufgetaucht. Aber der Wirt einer Gaststätte hatte ausgesagt, dass unter denen, die abgehauen waren, auch zwei Algerier gewesen waren. Andere Zeugen hatten das bestätigt.
Silber und drei andere würden sich dafür verantworten müssen. Rowdytum war ein ernstes Delikt. Auf der anderen Seite war Heiko Silber nie zu spät auf seiner Arbeitsstelle erschienen, dem VEB Holzbehälterbau in Jena. Das würde man ihm anrechnen. Und man wollte ja auch so eine junge Familie nicht zu sehr belasten. Silber und seine Frau Beate hatten zwei kleine Kinder.
Otto überlegte, wie er vorgehen sollte. Gleich wurde es dunkel. Da konnte er sich irgendwo in Winzerla auf die Lauer legen, wenn er nur dem Abschnittsbevollmächtigten aus dem Weg ging. Er fuhr durch Lobeda hindurch und war schnell auf der Brücke, die ihn über die Saale brachte.
So viel war ihm klar. Silber war sein Mann. Der 9. Oktober war der Tag, an dem Teo Macamo ermordet worden war. Und Silber hatte den Zug nach Jena genommen an jenem Abend. Zusammen mit drei anderen.