87
Der Lada stand so, dass Otto den Eingang des Hauses im Rückspiegel sehen konnte. Der Wagen zeigte wie die neben ihm mit der Front auf die gegenüberliegenden Gebäude, fünf plus eins. Er zog nur an seiner Zigarette, wenn niemand in der Nähe war, damit niemand das Glühen sehen konnte. Der Abschnittsbevollmächtigte war außer Dienst. Doch wer hatte wirklich jemals frei, wenn es darum ging, den Sozialismus nach vorn zu bringen? Niemand wollte sich mangelnde Wachsamkeit nachsagen lassen.
Es war schon fast eine halbe Stunde her, dass er einen schmalen Jungen das Haus hatte betreten sehen. Im Licht der Funzeln war sich Otto über dessen Alter nicht ganz klar, aber er hatte sich bewegt wie ein Halbwüchsiger. Zauselige Haare, am Knöchel aufgerollte Jeans und dicker Pulli. Er hatte auf dem
Klingelschild nicht nach dem Namen gesucht. Kannte sich also aus. Er tippte auf Besuch für Silber. Aber er war nicht der, der in Lichtenhain wohnte. Der war 24 Jahre alt. Die hatte der Junge nie im Leben.
Ein älterer Mann kam aus einem der Häuser, auf die er sah. Leicht gebeugt, den Kopf schräg nach oben gerichtet, war er zu alt und entsprach nicht dem Profil der Leute, die hier ihre zugeteilte Wohnung bezogen hatten. Er ging in Richtung Rudolstädter Straße, ohne Otto zu bemerken. Der zündete sich eine neue Zigarette an.
Ein weiterer Mann kam aus derselben Haustür. Auch er zu alt, um als junger Familienvater durchzugehen. War das vielleicht der ABV
? Otto kannte ihn nicht. Der Mann trug Karohemd und graue Weste unter seinem Doppelkinn. Jetzt war er aus dem trüben Lichtkegel hinausgetreten und hatte einige Schritte auf den Lada zugemacht. Otto rutschte tiefer in den Sitz und sah im Rückspiegel gerade noch, dass Silber und der Jüngling das Haus auf der anderen Straßenseite verließen.
Der in Karohemd und Weste stand so nah am Lada, dass er eigentlich schon den Rauch der Zigarette riechen musste, der aus dem halboffenen Fenster entwich. Otto kam sich blöd vor. Er war Polizist, und er musste sich vor niemandem verstecken. Er hustete vernehmlich. Der Mann drehte sich kurz zu ihm, interessierte sich aber nicht dafür, was im Lada vorging. Also drehte Otto den Zündschlüssel und setzte den Wagen zurück.
Silber und sein Kumpan waren schon an der Rudolstädter Straße angekommen, als Otto den Lada langsam aus dem Neubaugebiet rollte. Es war nach halb acht, die Straßenbahnen fuhren nicht mehr allzu oft. Aber vielleicht kannten sie den Fahrplan. Sie konnten an der Endhaltestelle einsteigen. Oder Gott weiß was tun. Er wollte ihnen nicht zu Fuß folgen.
Die beiden waren schon an der Haltestelle vorbeimarschiert
und bewegten sich redend auf die Ernst-Abbe-Siedlung zu, Einfamilienhäuser und kleine Gärten. Silber gestikulierte heftig, der andere schlackerte mit den Armen. Wenige andere Leute waren zu Fuß unterwegs. Eine Straßenbahn kam aus Jena, halbvoll. Hinter der Ernst-Abbe-Siedlung war sich Otto sicher, dass sie ihr Ziel zu Fuß erreichen wollten. Er ließ den Lada am Straßenrand stehen und setzte die Verfolgung zu Fuß fort. Die beiden unterquerten die Brücke, über die die Bahnlinie nach Jena-West führte, und erreichten den Engpass zwischen den Bahngleisen.
Während die Bahn nach Westen bergauf geführt wurde, verliefen die Gleise in die Stadtmitte fast direkt neben der Straße. Die beiden Männer waren gleich am engsten Punkt angekommen. Otto erinnerte sich an einen Mordfall, der genau dort seinen Anfang genommen hatte. Ein alter Mann, nur eine Badehose am Leib, hatte am Straßenrand gelegen. Es war einer von Ottos ersten Fällen gewesen. Sie hatten drei Tage gebraucht, um herauszufinden, dass er bei einer Prügelei am Fluss zu viele Schläge gegen den Kopf hatte einstecken müssen. Sie hatten dann seine drei Kumpane vor Gericht gebracht.
Otto hatte ein seltsames Verhältnis zu dieser Gegend. Sie wirkte auf ihn wie eine verwunschene Höhle. Das hatte mit den Verbrechen zu tun, die hier immer wieder stattfanden. Dieser Mord, dazu ein Raub oder zwei, ein Exhibitionist war hier auch mal abends unterwegs gewesen. Tatsächlich aber ging dieses Gefühl auf seine Kindheit zurück. Es gibt diese Orte, die sich verändern, die aber für einen selbst die gleichen bleiben. Als Junge hatte er eine Zeitlang regelrecht Angst gehabt, diese enge Passage zu benutzen. Absurd eigentlich, denn die DDR
war auch damals schon ein sicheres Land gewesen. Heute war sie es noch viel mehr, und trotzdem spürte er diesen Respekt. Er würde eine Kamera hier aufstellen lassen. Dann hätten sie auch
hier alles unter Kontrolle. Aber das wäre natürlich viel zu aufwendig.
Das mit der Kamera hatte er einmal bei einem ihrer Abende in der Heinrichsbrücke
fallengelassen. Die anderen hatten ihn angesehen, als wäre er nicht von dieser Welt. Dabei würde das doch dem Anspruch gerecht, den die Partei an die Sicherheit hatte. Er hatte das dann auch nicht wieder erwähnt. Vielleicht war er seiner Zeit ja einfach voraus, dachte Otto.
Genau am Auffindungsort von damals waren Silber und der andere nun. Der Bahndamm zur Rechten, etwas höher als die Straße gelegen, ein paar Häuser am Hang auf der anderen Seite, in der Mitte die Straße und die Straßenbahngleise nach Jena. Hinter dem Bahndamm lagen noch ein schmaler Weg und dann der Fluss. Silber gestikulierte unaufhörlich. Otto hörte den Zug aus Jena, bevor er ihn sah. Kurz bevor er die beiden erreichte, packte Silber den Jüngeren am Kragen und stieß ihn ein Stück in Richtung Bahndamm. Der Junge fing sich schnell wieder, bekam aber sofort einen erneuten Stoß. Der erwischte ihn falsch, er taumelte Richtung Bahndamm und Gleis. Silber griff beherzt zu und richtete ihn wieder auf, bevor der Zug sie passierte.
Otto beobachtete die beiden aus zu großer Distanz, um Gesichter zu sehen oder ihre Körpersprache zu erkennen. Aber er erwartete eine Reaktion auf die Attacke, auch wenn sie im Scherz geschehen war. Doch wenn sich der Jüngere beschwerte, dann tat er es nur verbal. Seine Körperhaltung war passiv. Er trottete neben dem Großen her. Silber war der Chef. Und Otto ließ ihnen mehr Vorsprung. Der Kleinere wäre nie unter den Zug geraten, dafür lag der Bahndamm zu hoch. Es war nicht mehr als eine Geste der Überlegenheit gewesen, dieser Stoß.
Was wusste er denn, worüber die beiden sich amüsierten. Gerade liefen sie am Martinshof
vorüber, wo auch Otto nach
der Arbeit schon mal auf ein Bier endete. Die Bahnstrecke senkte sich ab auf Straßenniveau an der Kreuzung zur Mühlenstraße, um dann am Paradiesgarten wieder zum Damm zu werden, richtig hoch nun, und die Männer gingen schweigend nebeneinanderher. Silber jedenfalls gestikulierte nicht mehr. Bald würden sie den Paradiesbahnhof erreichen. War es ein Fehler gewesen, den Wagen in Winzerla zu lassen?
Schon von weitem sah Otto den dicken Mann im Blaumann winken. Am Ausgang des Bahnhofs wartete er auf Silber und den Jungen. Wenn sie in einen Zug stiegen, dann musste er mitfahren. Die drei begrüßten sich mit Handschlag und fingen an zu reden. Otto drückte sich an den Bahndamm und zündete sich eine Zigarette an. Am Busbahnhof gegenüber dem Eingang war noch was los. Leute warteten. Ein Bus fuhr ab und entließ eine Dieselwolke, die deutlich sichtbar im Licht einer Laterne stehen blieb.
Das Trio drehte sich um und ging in den Bahnhof.
Als er den Eingang erreichte, sah Otto sie gerade zum Hinterausgang verschwinden und nach Norden gehen. Also ließ er sich Zeit. Entweder würden sie die Saale überqueren. Das würde er sehen, sobald er die Halle verließ. Oder sie würden am Fluss entlanglaufen. Dann hatte er Gelegenheit, sich an sie zu hängen. Auf dem Uferweg würden sie ihm nicht entkommen.
Sie waren nicht in Eile. Und nahmen erst die kleine Griesbrücke, um den Fluss zu überqueren. Bevor sie das Ostbad erreichten, schlugen sie sich in eine Gartensiedlung. Otto beschleunigte sein Tempo und sah gerade noch, wie die drei in einem kleinen Bungalow verschwanden. Er wartete ein paar Minuten, bevor er sich dem Licht näherte, das aus einem der Fenster fiel.
Das Holzhaus stand ein paar Meter entfernt vom Weg, wie alle anderen auf seiner Seite. Es war so dunkel in der Kolonie,
dass die vier am Tisch ihn nicht sehen konnten. Bierflaschen, Brot und Wurst konnte Otto sehen. Silber saß mit dem Rücken zu ihm, den Blaumann und den Jüngling sah er von der Seite. Am anderen Ende des Tisches saß ein vierter Mann und trank aus der Flasche. Er war komplett kahlgeschoren.
Ein paar Minuten wartete Otto noch und sah, wie die vier weitere Flaschen öffneten. Vier Männer, dachte Otto. So viele waren es gewesen, die Teo Macamo gequält und ermordet hatten.
Beim Saufen musste er denen nicht zusehen. Also verließ er die Kolonie.