90 | SO
4.12.1983
«Warte.» Bodo war ein paar Schritte voraus und hatte fast schon seinen roten Lada erreicht, als Otto ihn aufhielt.
«Ich muss eigentlich …», sagte er, den Schlüssel hatte er gerade ins Schloss gesteckt..
«Warte trotzdem.» Otto blickte zurück und sah Mutter im Fenster. Er winkte, sie winkte auch. «Lass uns reden», sagte er. «Im Wagen.»
Als sie saßen, suchte Otto nach Worten. Bodo starrte aus dem Fenster und wartete.
«Was machst du eigentlich gerade?», fragte Otto.
«Du weißt, was ich mache.»
«Ja. Grundsätzlich. Ich frage trotzdem. Du bist mein Bruder, und ich bin nicht der Klassenfeind.»
«Hast du Ärger in der MUK
?»
«Wenn ich Ärger hätte, wärst du doch der Erste, der es mitkriegt.»
«Wie meinst du das? Willst du sagen, dass ich jemanden … Du bist verrückt.»
«Ist da wer?»
«Ach …» Bodo drehte sich ab und blickte aus dem Fenster. «Jetzt sag schon, was du willst.»
«Wie gehen wir eigentlich mit Nazis um?»
«Nazis? Hier?»
«Nazis.»
«Es gibt keine.»
Otto sagte nichts.
Bodo schwieg ebenfalls.
Otto legte seine Hände auf die Knie, dann hob er sie kurz an und rieb sie aneinander. Er ballte sie zu Fäusten, bevor er weiterredete.
«Du weißt so gut wie ich, dass das nicht stimmt.»
«Du hängst immer noch an dem Fall mit dem Afrikaner.»
Als Otto nicht antwortete, setzte Bodo nach. «Wie viele Leute haben dir gesagt, dass du die Finger davon lassen sollst?»
«Du auf jeden Fall.»
«Und Vater. Und Thiel. Und vielleicht auch noch einer aus der Spezialkommission, wenn es denen besonders wichtig gewesen ist. Aber der Befehl war doch klar. Die Ermittlung ist abgeschlossen.»
«Danke. Ich mag es, wenn mich mein eigener Bruder belehrt. Jetzt kannst du mir ja die Frage endlich beantworten.»
«Welche Frage?»
«Wie wir hier mit denen umgehen.»
«Es gibt keine, ich hab dir das doch gerade gesagt. Nazis sind eine Folge des kapitalistischen Wirtschaftssystems. Die gibt es folglich in der Bundesrepublik Deutschland. Nicht bei uns in der DDR
.»
Es fing an zu regnen. Otto fiel ein, dass er vergessen hatte zu rauchen. Er holte die Packung hervor, zündete sich eine an und hielt Bodo das Feuerzeug hin. Der holte seine eigene Packung schon aus der Jacke.
«Und wer waren die beiden Arschlöcher, die ich Freitag dabei beobachtet habe, wie sie beinah einen Vertragsarbeiter unter den Bus gestoßen hätten?»
Bodo hustete. «Du hast was?»
«Ich hätte es verhindert.»
«Du bist …» Bodo lächelte. «Du hast dich tatsächlich über die Anweisungen hinweggesetzt, die du vom Leiter der MUK
bekommen hast? Ich dachte, du wärst klüger.»
«Du hast gesagt, ich wäre naiv.»
«Naiv ja, aber doch nicht so blöd. Was, wenn das herauskommt?»
«Was dann?»
«Wenn du Glück hast, lassen sie dich den Verkehr regeln. Was waren das für Leute, denen du da gefolgt bist?»
Otto erzählte seinem Bruder von den Sonntagen, an denen er im Zug gesessen hatte. Von Frau Krahmer. Von dem Großen und seinen Freunden. Und von der Geschichte mit dem Bus.
Bodo nahm sich Zeit, bevor er antwortete. «Was hättest du denen erzählt, wenn du die daran gehindert hättest? Dass du ganz zufällig da vorbeigekommen bist? Und dann hättest du sie zugeführt, ja? Und das ganz allein?»
«Willst du immer noch sagen, dass es keine Nazis bei uns gibt?»
«Einzelfälle. Unpolitische und Asoziale. Nichts, was auch nur im Ansatz organisiert ist. Guck dir die doch an. Wenn du das richtig gesehen hast, streifen die den ganzen Abend durch die Stadt, um sich ein Opfer zu suchen.» Er schüttelte den Kopf. «Hilflos. Gefährlich natürlich, aber hilflos.»
«Immerhin hat der Silber eine Neubauwohnung in Winzerla gekriegt. Da haben sie den doch überprüft.»
«Ja, formal. Wenn er Parteimitglied ist und pünktlich zur Arbeit erscheint und seine Zeugungskraft bereits nachgewiesen hat oder wenigstens zwei dieser drei Kriterien erfüllt, dann kriegt er halt eine Neubauwohnung. Wo ist das Problem?»
«Und wie passt das zusammen? Asozial und pünktlich auf der Arbeit?»
«Es gibt immer Grenzfälle und immer wieder Fehleinschätzungen. Asozial ist ein weiter Begriff.»
«Und deine Arbeit? Wofür ist die gut?»
«Dafür, diese Fehleinschätzungen so gering wie möglich zu halten. Und jetzt lass mich fahren.»