93 | MI 7.12.1983
Auf dem Weg nach Gera hatte Otto morgens den Umweg über Winzerla genommen. Der Golf hatte noch am gleichen Platz gestanden wie abends zuvor. Der Golffahrer hatte also entweder eine Einladung von Silber oder von jemand anderem, der nicht weit entfernt wohnte. Sonst hätte er nicht über Nacht in der DDR bleiben dürfen.
Am Abend war er früher als sonst in der Neubausiedlung. Es wurde gerade dunkel. Leute kamen von der Arbeit, es war belebter, als er es bisher gesehen hatte. Und keine Spur von dem Golf.
Otto rollte langsam an den geparkten Autos vorbei und fand das Westauto schließlich am anderen Ende der Straße. Er wendete und parkte den Lada so, dass er Silbers Haustür im Blick hatte. Den Schluck Weinbrand ließ er so lange im Mund kreisen, bis die Zunge brannte, dann zündete er sich eine Zigarette an.
Eine Frau von kaum zwanzig schob mit einer Hand einen Kinderwagen an ihm vorbei und hatte ein Kleinkind an der anderen Hand. Der Junge ließ sich mehr ziehen, als dass er selbständig ging. Otto zündete sich die vierte oder fünfte Zigarette innerhalb kurzer Zeit an, als der dünne junge Mann auftauchte, der mit Silber vor ein paar Tagen unterwegs gewesen war. Er klingelte und drehte sich dann ab. Er wartete nicht darauf, eingelassen zu werden.
Otto schnippte die Zigarette aus dem Fenster und sah, wie Silber und der Bundi aus der Tür traten, ohne den Jungen zu grüßen. Sie überprüften die Gegend und stiegen dann in den Golf. Der Junge machte es ihnen nach.
Das Westauto war gerade seinem Blickfeld entkommen, als Otto anfuhr. Bald war er ihnen in Richtung Jena auf der Spur. Er hielt Abstand, aber wenn er es für eine Sekunde aus den Augen verlor, würde er das satte Rot des Westautos auch von weitem im Dunkeln sehen.
Im Engpass war Otto dem Golf so nahgekommen, dass er Tempo rausnahm. Er folgte dem Wagen am Paradiesbahnhof vorbei, dann über die Brücke zur Karl-Liebknecht-Straße nach Jena-Ost. Und als der Golf dann zum Ostbad abfuhr, ahnte er, wohin die Reise gehen würde. Er sah Bier im Bungalow, viel Bier. Und er sah sich selbst die Beschattung gleich abbrechen. Was sollte er in der Kolonie rumstehen? Warum sollte er das Risiko eingehen, ertappt zu werden?
Der Golf parkte direkt vor dem Eingang. Otto näherte sich, drehte und fuhr ein Stück zurück. Er parkte den Lada so, dass er von der Kolonie aus nicht zu sehen war. Ein Mann, der ein paar Jahre älter war als er selbst, kam von der Liebknecht-Straße spaziert. Er war halb kahl auf dem Kopf und hatte einen tief über die Mundwinkel gezogenen Schnurrbart. Über dem Blaumann trug er eine Winterjacke, in der Hand hielt er eine Ledertasche. Otto rutschte tief in den Sitz und ließ ihn vorübergehen. Er folgte ihm zuerst mit den Augen, dann stieg er aus, ging ihm hinterher und sah, wie der Mann die Kolonie betrat.
Hinter einem Baum verborgen wartete Otto, als der Mann den Weg hinabging. Vor dem Bungalow, in dem sich Silber und die drei anderen vor kurzem getroffen hatten, standen zwei Männer, von denen er im Licht, das aus dem Fenster fiel, nur Umrisse erahnen konnte. Er meinte Silber zu erkennen, weil einer der beiden deutlich größer war als der andere. Der Mann mit der Tasche blieb bei ihnen stehen, sie gaben sich die Hände und verschwanden im Inneren des Bungalows.
Noch zwei oder drei Minuten lang blieb Otto an seinem Platz und machte sich dann auf. Am Tor drehte er sich noch einmal um. Niemand schien ihn zu beobachten. Aber die Dunkelheit konnten sich durchaus auch andere zunutze machen.
Als er drei Bungalows hinter sich gelassen hatte, wurde weiter den Weg entlang eine Tür geöffnet. Zum Licht kamen Stimmen, viele Stimmen schien ihm, die Tür wurde wieder geschlossen. Otto kletterte über einen Zaun und ging in die Hocke. Ein Schatten bewegte sich nah am Haus, und er konnte das Plätschern von Pisse hören, die konstant auf einen Punkt im weichen Boden fiel. Die Tür ging wieder auf, Stimmen waren erneut zu hören, die Gestalt verschwand.
Otto beeilte sich. Er lief fast, bis er das Licht erreichte, und blickte durch das Fenster.
Was er sah, hatte er nicht erwartet. Da saßen etliche Leute, alle jung auf den ersten Blick, alles Männer, auf Stühlen und vielleicht auch Bänken, so genau konnte er das nicht sehen. Und am anderen Ende des Raumes stand der Bundi und redete. Nein, er redete nicht. Er trug etwas vor.
Er hielt eine Ansprache. Deshalb war er nach Jena gekommen.
Otto blickte sich noch einmal um. Da war niemand. Aber er spürte ein Gefühl von Gefahr und Unsicherheit. Bleib nicht zu lange, sagte er sich.
Der Bundi strich sich mit einer Hand über den Zopf und machte dabei eine Redepause. Dann hob er den Zeigefinger und peitschte auf sein Publikum ein. Er schrie nun, und Otto konnte seine Stimme hören, nicht aber seine Worte. Dann zog er den Arm ein und blickte sein Publikum an. Ein einzelnes Klatschen war zu hören. Silber stand auf und hieb die Hände gegeneinander. Andere machten es ihm nach, klatschten, standen ebenfalls auf. Der Junge, den Silber vor ein paar Tagen an den Bahngleisen gedemütigt hatte, drückte seinen Rücken nah am Fenster durch. Otto konnte ihn gut erkennen. Er hörte auf zu klatschen, stattdessen reckte er den rechten Arm schräg nach oben.
Otto machte, dass er davonkam.