98
Otto hatte den Lada ein paar hundert Meter entfernt vom Bahnhof abgestellt und stand nun am Ende des Bahnsteigs in Schwarza. Es war ein Impuls gewesen. Am Sonntagabend waren die fünfzig Kilometer nach Schwarza schnell gefahren, und er hatte nicht lange nachgedacht. Erst jetzt fragte er sich, welche Art der Bestätigung er hier noch suchte. Teo Macamo war hier gewesen, im Zug. Das wusste er. Silber und seine Leute hatten ihn überfallen und dann umgebracht. Das wusste er auch. Auch wenn er im Moment nicht in der Lage war, das vor Gericht zu beweisen. Unter anderen Umständen würde er herausfinden wollen, was Silber in Schwarza tat, ob er dort eine Freundin hatte. Aber das hier waren nicht diese normalen Umstände.
Er hatte sich in eine seltsame Position gebracht. Zu wissen, wer für ein Verbrechen verantwortlich war, führte zu Konsequenzen, das hatten sie nicht erst im Kriminalistikstudium gelernt. Mehr noch, er war so aufgewachsen. Vater hatte ihn geschlagen, wenn er etwas ausgefressen hatte. Ohrfeigen. Nicht heftig, mehr symbolisch. Aber immer vor den andern. Vor Mutter. Und vor Bodo. Der hatte es deutlich seltener abgekriegt.
Was hatte Heinz gesagt? Einen ganz normalen Vorgang hatte er es genannt. Die Ermittlungen einzustellen sei ein ganz normaler Vorgang. Und niemand hatte widersprochen.
Jetzt, in genau diesem Moment, fühlte er sich ausgeschlossen.
Ausgeschlossen wie damals nach Vaters Ohrfeigen.
Otto blickte sich auf dem Bahnsteig um. Zwei junge Soldaten standen nicht weit von ihm, ein Ehepaar in seinem Alter mit zwei Kindern hatte sich auf einer anderen Bank niedergelassen. Er hatte sie alle nicht kommen hören.
Als er sich erhob, um zurück zum Lada zu gehen, hörte er die Stimmen der jungen Männer. Ohne nachzudenken drückte er sich hinter einen Pfeiler und sah Silber, der von den drei anderen begleitet wurde. Es waren jene vier, die er in dem Garten gesehen hatte. Der dünne Junge war da. Dann der Stämmige, der den Blaumann getragen hatte. Jetzt hatte er eine Steppjacke an und eine Mütze, beides aus dem Westen. Und der mit der Glatze war auch Teil der Gruppe. Jetzt konnte Otto mehr von ihm sehen. Er war fast so groß wie Silber und etwas breiter. Trotz der Kälte trug er nur einen Nicki über der Hose. Beim Gehen bewegte er die Arme kaum.
Otto entfernte sich bis zum Ende des Bahnsteigs und wartete, bis der Zug anhielt. Als die vier Männer vorn eingestiegen waren, lief er über den Bahnsteig zu einer Tür am anderen Ende des Zuges, nahm die Stufen mit einem Satz und wartete. Erst als der Zug in Rudolstadt gehalten hatte und wieder angefahren war, ging er langsam durch die Waggons. Die vier saßen ordentlich in einer Sitzgruppe und redeten miteinander. Er beobachtete sie durch das Fenster einer Tür, bis der Zug wieder hielt. Inständig hoffte er, dass Frau Krahmer nicht im selben Zug unterwegs war, konnte sie aber nicht entdecken. Ein paar Meter von ihnen entfernt setzte er sich hin. Dabei achtete er darauf, dass er von Silber nicht gesehen werden konnte, der aber ohnehin mit den anderen beschäftigt war.
Sie redeten leise. So leise, dass Otto kaum ein Wort verstehen konnte. Am gegenüberliegenden Fenster quatschten zwei junge Mädchen, deren Worte ihm immer wieder in die Quere kamen. Nach ein paar Minuten gab er die Idee auf, die vier zu belauschen. Erst kurz vor Kahla tauchte der Schaffner auf. Otto zeigte seinen Dienstausweis vor, und der Uniformierte ging weiter.
Die vier grüßten den Schaffner artig und warteten mit ihrer Unterhaltung, bis er wieder verschwunden war. Kurz darauf standen sie auf und gingen zur Tür. In Göschwitz folgte Otto ihnen mit einigem Abstand. Wo Silber wohnte, wusste er schließlich.
Die vier hatten noch nicht einmal die Hälfte des Weges bis zu Silbers Haus in Winzerla zurückgelegt, als Otto sie nicht mehr entdecken konnte.
Hatten sie ihn vielleicht bemerkt? Lauerten ihm irgendwo auf? Das musste nicht sein. Sie konnten einfach stehen bleiben und auf ihn warten. Sie waren schließlich mehr.
Waren sie irgendwo in einem Haus verschwunden? Nur waren hier fast keine Häuser. Das war das Niemandsland südlich von Jena.
Oder waren sie irgendwo abgebogen, und er hatte ihnen eine zu lange Leine gelassen? Otto rannte ein paar Schritte und blickte sich erneut um. Lief wieder eine kurze Strecke und erreichte eine Kreuzung, an der die Bebauung begann. An einer Hausecke lehnte er sich vorsichtig nach vorn und entdeckte die vier Männer. Sie gingen bergauf und bogen gerade zum Wohnheim der Vertragsarbeiter ab, genau dorthin, wo die MUK vor ein paar Wochen nach diesem Kaunda gesucht hatte, der bei ihren Ermittlungen kurz eine Rolle gespielt hatte. Was mochten die vier dort vorhaben?
An der nächsten Ecke wartete Otto einen Moment lang, beugte sich vor und sah die Gruppe in einiger Entfernung zum Wohnheim auf einer Brache stehen. Alle starrten zu dem Komplex hinüber. Zwei Mosambikaner gingen langsam an ihm vorbei. Sie bewegten sich gemächlich auf das riesige Wohnheim mit seinen drei ineinandergebauten Blöcken zu. Er meinte, ein Zögern in den Bewegungen des einen zu sehen, als sie sich den vier Männern näherten. Doch dann gingen sie weiter, als sei nichts. Otto vermochte nicht zu hören, was Silber ihnen hinterherrief, dafür war er zu weit weg. Doch einer der beiden Mosambikaner drehte sich kurz um. Silber machte eine drohende Armbewegung, und der Mosambikaner zog seinen Begleiter schnell in die Unterkunft hinein.
Die vier standen herum und redeten. Der Dünne zeigte auf das Wohnheim und lachte. Er war erst siebzehn, das hatte Otto in den Unterlagen zu diesem Zwischenfall in Schwarza am 9. Oktober gesehen. Und ging noch zur Schule. Die anderen stimmten in das Lachen ein. Die Glatze war als Einziger aus der Gruppe vorbestraft. Körperverletzung. Der mit der Steppjacke war wie der Junge bislang noch nicht aufgefallen. Da war nur diese Sache in Schwarza. Mehr Mosambikaner kamen aus der Stadt, darunter auch eine größere Gruppe. Otto vertrat sich die Beine. Als er wieder um die Hausecke blickte, prallte er fast gegen die vier.
«Hey», sagte der mit der Glatze, der vorn gegangen war.
Silber verharrte kurz und sah ihn an. Otto spürte, dass der Mann versuchte, ihn einzuordnen. Aber an die Begegnung im Zug schien er sich nicht mehr zu erinnern.
Der mit der Glatze war schon weitergegangen, und die drei anderen folgten ihm schließlich. Otto ließ ihnen wieder erheblichen Vorsprung und sah ein paar Minuten später, wie sie gemeinsam in Silbers Haus verschwanden.