99 | MO 12.12.1983
Den Krümel auf dem Kragen seines Jacketts sah Otto noch, aber er traute sich nicht, ihn kurz wegzuwischen. Er stand stramm und wartete darauf, dass der Oberstleutnant einen Ton sagte. Aber der starrte demonstrativ auf ein Blatt in der Akte vor sich. Sie war aus Pappe und nicht besonders dick, das Blatt vor den Augen des Vorgesetzten war mit kleinen Buchstaben vollgetippt. Und an drei Stellen stachen farbige Unterstreichungen heraus. Das war es, was Otto sah. Er stand zu weit weg, um mehr zu erkennen. Und er hatte einen Krümel auf dem Kragen.
«Rühren», sagte der Oberstleutnant schließlich, ohne aufzusehen. Der stellvertretende Leiter der Kriminalpolizei im Bezirk war nicht als harter Hund bekannt. Aber man erzählte sich, dass es gut war, sich seine Sympathie nicht zu verscherzen. Wenn er sie einmal entzog, war es schwer, sie wieder zurückzugewinnen.
Otto stellte einen Fuß versetzt vor den anderen und atmete durch, ohne sich freier zu fühlen. Gleich bei der Ankunft in Gera hatte ihn Heinz zu sich gerufen. «Da sind Dinge», hatte er gesagt, «die werfen ein Licht auf die ganze MUK .» Dann hatte er ihn eine Etage höher geschickt. «Wenn wir dir das nicht vermitteln können …», hatte Heinz noch leise gesagt.
Der Oberstleutnant betrachtete das Papier vor sich, dann legte er einen Finger auf einen Absatz und folgte langsam einer Zeile. Es war eine Demonstration. Otto war immer noch nicht klar, worum es hier ging. Heinz’ Geheimniskrämerei hatte ihn in erster Linie nervös gemacht. Endlich sah der Oberstleutnant auf.
«Oberleutnant Castorp.» Sein Blick war nicht freundlich. «Kennen Sie die Kompetenzen der Spezialkommission IX des MfS?»
Otto musste nachdenken. Natürlich wusste er, wofür die Genossen verantwortlich waren. Sie übernahmen im Zweifelsfall eine Untersuchung der MUK , wenn diese politisch brisant war. Oder erschien. Aber was wollte der Oberstleutnant von ihm hören?
«Natürlich, Genosse Oberstleutnant», sagte er und hoffte, dass das die richtige Antwort war.
«Dann werden Sie mir auch zustimmen, dass die Genossen von der Untersuchungsabteilung ganz genau wissen, was sie tun, wenn sie einen Fall in ihre Obhut nehmen.»
«Gewiss, Genosse Oberstleutnant», sagte Otto, ohne die Silben besonders zu betonen. Er hätte nur zu gern gewusst, was für eine Akte der Genosse da vor sich liegen hatte. Allerdings hatte er natürlich eine Ahnung.
«Erklären Sie mir also, Genosse Oberleutnant, welchen politischen Sinn das Ganze macht. Reden Sie frei, und verzichten Sie meinethalben auf das Geschwafel aus dem Studium.» Der Oberstleutnant lehnte sich in seinem Sessel zurück und verschränkte die Arme.
Ein Muskel in seinem glattrasierten Gesicht zuckte ein wenig, genau unter seinem linken Auge. Es machte Otto Angst. «Die … Also wenn …», stammelte er.
Der Muskel unter dem Auge des Oberstleutnants zuckte heftiger. «Nun machen Sie schon.»
Otto sammelte sich und versuchte frei zu reden. «Es ist eine Frage der politischen Kompetenz und gesellschaftlichen Verantwortung. Wenn die Genossen von der Untersuchungsabteilung IX des Ministeriums für Staatssicherheit erkennen, dass ein Fall die Dimension …»
Der Oberstleutnant hob eine Hand, um Otto zu stoppen. «Ja, ja, ja. Ersparen Sie mir das. Und sich selbst auch. Sie wissen ja so gut wie ich, wie es läuft. Eins, Genosse Oberleutnant: Wie kann es sein, dass Sie, wo sich doch der Fall mit diesem mosambikanischen Vertragsarbeiter längst nicht mehr in den Händen Ihrer Morduntersuchungskommission befindet, wie kann es also sein, dass Sie dann», er zeigte mit dem Finger auf Otto, «dass Sie dann ganz allein immer noch und auf eigene Initiative und somit ganz ohne Absprache sowie Wissen Ihrer Kollegen und des Leiters Ihrer Morduntersuchungskommission immer noch dabei sind, in diesem Fall zu ermitteln?» Der Oberstleutnant holte Luft und nahm den Finger runter. «Erklären Sie mir das.»
Den letzten Buchstaben zog er ins Endlose. Otto meinte, ein paar Tropfen des Speichels auf seiner Seite des Schreibtischs landen zu sehen. Gut, das wusste er also jetzt. Dass das MfS den Fall übernommen hatte, war dem Beschluss, den Heinz weitergetragen hatte, nicht zu entnehmen gewesen. Was immer das auch bedeutete. Den Fall zu übernehmen und in ihm zu ermitteln, waren natürlich zwei Paar Schuhe. Den Eindruck, dass irgendwer an Silber und seinen Kumpanen dran war, hatte er in der letzten Zeit nicht gewonnen. Er war bei seinen geheimen Ermittlungen sicher niemandem auf die Füße getreten. Also … physisch. Und im Umkehrschluss hatte ihn niemand ermitteln gesehen.
Oder?
«Nun?» Der Oberstleutnant saß aufrecht. Die Unterarme lagen auf dem Schreibtisch.
Otto wusste, dass er eine Antwort liefern musste. «Es war unverantwortlich von mir», sagte er. «Ich habe mich treiben lassen von persönlichen Interessen.»
Der Oberstleutnant nickte. Gut.
Jetzt noch etwas mit einem persönlichen Anstrich. Formuliere eine nachvollziehbare Schwäche. «Der Mord an diesem Teo Macamo hat mich mitgenommen.» Sollte er noch weiter gehen? «Darf ich ganz ehrlich sein, Genosse Oberstleutnant?»
Ein Nicken. Schwer einzuschätzen.
«Es gibt diese Momente, die gehen einfach über das hinaus, was wir in der Ausbildung und im Studium lernen.»
Der Oberstleutnant rührte sich nicht. Das Zucken war kurz zu sehen. War er zu weit gegangen? War seine letzte Einlassung zu persönlich gewesen?
Der Blick des Oberstleutnants senkte sich zur Akte. Er holte tief Luft. «Das haben wir alle einmal erlebt.» Ausatmen. Einatmen. Der Blick wieder auf Otto. «Lernen Sie daraus.»
Auf dem Weg hinaus durch das Vorzimmer des Oberstleutnants hätte Otto beinah angefangen zu lachen, so erleichtert war er.