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16.12.1983
Der Bauarbeiter, der seinem Kollegen zuerst den Schädel eingeschlagen und ihn dann an der Teufelsbrückenschänke abgelegt hatte, war am Mittag in Neubrandenburg festgenommen worden. Er war zu seiner Mutter geflohen. Für die MUK
war es eine einfache Aufgabe gewesen. Die beiden Männer waren abends in einer Gaststätte in Hermsdorf gesehen worden. Sie hatten zuerst getrunken und dann angefangen, sich zu streiten. Als der eine den anderen ins Gesicht geschlagen hatte, waren sie der Gaststätte verwiesen worden. Danach hatte niemand sie mehr gesehen. Jedenfalls hatten sie niemanden gefunden, der zu einer Aussage bereit gewesen war.
Der Mann wartete darauf, in den Bezirk Gera überführt zu werden. Gestanden hatte er noch nicht. Otto passierte das Hermsdorfer Autobahnkreuz, er war nur ein paar hundert Meter vom Auffindungsort entfernt. Den Mann würden sie bald so weit haben, dass er gestand. In der Morduntersuchungskommission herrschte große Zuversicht, den Fall schnell der Staatsanwaltschaft übergeben zu können.
Unterwegs entscheide ich mich, hatte er sich gedacht, als er eben den Autoschlüssel gedreht hatte, um den Lada zu starten. Aber je näher er Jena kam, desto absurder erschien ihm der Gedanke. Er hatte sich selbst betrogen. Otto wusste genau, dass er durch Lobeda hindurchfahren und in Winzerla enden würde.
Was er nicht wusste, war, was er dort zu erfahren hoffte. Er wusste, was es zu wissen gab. Da konnte er dem Silber noch so oft hinterherlaufen. Gerade ignorierte er die Kreuzung, an der er hätte abbiegen müssen, um nach Hause zu kommen. Birgit würde die Kinder ermahnen, die Teller leerzuessen, und sie bald ins Bett bringen. Sein Platz am Tisch war gedeckt, wie immer.
Die Parkplätze, von denen aus er bislang Silbers Haustür beobachtet hatte, waren alle belegt. Also stellte er sich etwas weiter entfernt auf und drehte die Scheibe herunter. Den ersten Zug der Zigarette hielt er in der Lunge, so lange er es vermochte, und fühlte sich dann konzentriert genug, um darüber nachzudenken, was er hier vorhatte.
Otto drehte den Rückspiegel so, dass er sich darin betrachten konnte. Die etwas zu runde Nase, die er nicht mochte, sah er nun im Halbdunkel. Die Stirn, die man bald hoch nennen würde, so wie die Haare da oben begannen auszufallen. Die Hand fuhr über die Wange. Er hatte sich angewöhnt, sich nur noch jeden zweiten Tag zu rasieren. Es fiel ohnehin nicht auf, so langsam wie der Bart bei ihm wuchs. Da war ein kleiner hellbrauner Fleck schräg unterhalb der Nasenwand. Hatte er den schon einmal gesehen? Der Finger spürte nichts, als er ihn ertasten wollte. Der Kamm lag vergraben im Handschuhfach. Er zog den Scheitel nach, der schon immer ein wenig zu sehr rechts lag. Das Haar hing jetzt knapp über die Ohren hinüber. Vielleicht sollte er sich einen Schnurrbart wachsen lassen. Das würde ihm ein männlicheres Aussehen verschaffen. Blöd nur, dass so ein Bart bei seiner Haarfarbe zwischen blond und farblos eigentlich gar nicht so gut aussah. Wenigstens hatte er ausdrucksstarke Augen. Birgit hat das immer gesagt. Früher. Ausdrucksstarke blaue Augen. Er stellte den Spiegel wieder ein und zog einen Flusen von der Anzughose.
Eines war ihm klar. Er musste diesen Fall bald loslassen.
Silber loslassen und vor allem Teo Macamo. Das war nicht das, was er wollte, aber wenn er in der Morduntersuchungskommission und in der DDR
überleben wollte, hatte er keine andere Wahl. Auf der anderen Seite wusste er eben, was er wusste. Den Silber würde er aufgeben. Aber irgendwann begegnete man sich noch einmal. Und wenn es in zehn Jahren war. Oder in zwanzig.
Irgendwann.
Wenn der Silber nicht wegen irgendetwas anderem verurteilt und dann vom Westen freigekauft wurde. Dann kriegte er ihn.
Auf jeden Fall.
Irgendwann halt.
Die Haustür ging auf, und die Glatze kam heraus. Auch heute trug er trotz der Kälte nur ein Hemd. Otto konnte ihm folgen und den Fall dann endgültig begraben. Also drehte er den Schlüssel und startete den Motor. Wenn er der Straßenbahn hinterherfahren musste, wollte er dazu in der Lage sein.
Die Glatze war schon fast an der Rudolstädter Straße angekommen, und Otto wollte nur noch einen Moment warten, als auch Silber das Haus verließ. Er stoppte den Motor wieder. An der Straße hinten sah er die Glatze schon die Beine in die Hand nehmen, der würde also tatsächlich bald in der Straßenbahn sitzen. Silber achtete nicht auf seinen Besuch, schien also seine eigenen Pläne zu haben. Als auch er die Rudolstädter Straße erreicht hatte, folgte Otto ihm zu Fuß.
Einmal noch. Ein einziges Mal noch würde er ihm folgen.
Die Kälte spürte Otto erst, als eine Straßenbahn vorüberfuhr. Es fühlte sich an wie kurz vor dem Gefrierpunkt. Und er hatte immer noch keinen Mantel im Kofferraum.
Silber ließ sich Zeit. Er erreichte gerade die Ernst-Abbe-Siedlung und blickte sich kurz um. Ohne einen Platz zum
Verbergen holte Otto seine Zigaretten hervor und zündete sich eine an. So konnte er wenigstens warten, ohne aufzufallen. Als er den ersten Zug in der Lunge hatte, sah er, wie Silber sich vornüberbeugte und hustete. Er spuckte etwas auf den Fußweg und ging dann weiter.
Es war klar, dass er damit aufhören musste. Der Oberstleutnant war deutlich genug gewesen. Er spielte mit seiner Laufbahn und mit dem Leben aller, die ihm nahestanden. Birgit. Die Kinder. Bodo vielleicht auch. Als er die Zigarette austrat, blickte er sich um, sah aber niemanden, der ihn verfolgte. Wer auch immer über ihn Bescheid wusste, dachte er. Aber vielleicht wusste ja niemand etwas. Vielleicht waren es auch nur blinde Hinweise, die wer auch immer weitergegeben hatte. Vielleicht war er einfach nur zweimal am falschen Ort aufgetaucht.
Er drehte sich erneut um. Der Blick nach hinten war frei. Niemand folgte ihm. Wirklich niemand. Was auch bedeutete, dass kein Mensch Silber auf den Fersen war. Wir haben das im Griff, hatte Bodo doch gesagt. Noch einmal blickte er hinter sich. Da war wirklich niemand.
Also, wie denn? Wie wollt ihr denn den da im Griff haben?
Aus der Ferne sah die schmale Eisenbahnunterführung aus wie das Tor zur Hölle. Es begann, ganz leicht zu regnen. Silber verschwand gerade im Engpass. Otto sah auf die Uhr. Es war nach acht. Er beschleunigte seine Schritte.
Unter der Brücke angekommen, hatte er sich Silber bis auf zwanzig Meter genähert. Er wartete wieder, um den Abstand etwas anwachsen zu lassen, und drehte sich dabei noch einmal um. Zu Fuß war hier kaum jemand unterwegs. Ein Kleinlaster fuhr vorüber und hinterließ eine dunkle Schmutzwolke. Otto unterdrückte ein Husten und wechselte die Straßenseite. Dort standen einige Häuser entlang der Straße, in deren Eingängen er sich, wenn nötig, besser verbergen konnte.
Drüben angekommen, wartete er eine Straßenbahn ab, die aus Jena kam, und konnte Silber dann dabei sehen, wie er sich erneut nach vorn beugte. Ein Krampf fuhr durch den Körper, und dann hustete und spuckte er.
Er spuckte mehr als eben. Silber übergab sich.
Nachdem er sich wieder aufgerichtet hatte, schüttelte er sich. Dann ging Silber schneller als vorher weiter. Otto ließ ihn gehen, folgte ihm so langsam, dass der Abstand noch ein wenig anwuchs. Gleich hatte Silber schon das erste Haus erreicht, das den Bahndamm von der Straße trennte. Der Engpass war zu Ende, die Straße wurde weiter. Es war der Beginn der Jenaer Innenstadt.
Am Martinshof
war ihm Silber dann wieder zu weit weg. Otto lief ein paar Schritte in der langgezogenen Kurve hin zur Kreuzung an der Mühlenstraße, wo sich der Bahnübergang befand. Genau an der Kreuzung sah Otto den Mann stoppen und sich umblicken. Von einem Hauseingang aus, in den er sich schnell gedrückt hatte, beobachtete Otto, dass Silber einen Punkt fixierte, der nicht in seinem Sichtfeld lag.
Ein Trabant kam aus Jena, lauter knatternd als sonst, der Regen wurde stärker, Silber verschwand hinter einem Haus direkt am Bahnübergang.
Vorsichtig lief Otto zum nächsten Gebäude. Dann noch eines weiter. Hinter dem, auf das er jetzt schaute, es lag leicht nach hinten versetzt, war Silber verschwunden. Ein W50-Laster war mit stotterndem Motor hinter ihm zu hören, kam langsam heran. Für ein paar Sekunden bestimmte dessen Lärm seine Wahrnehmung.
Der Laster war immer noch laut, als Otto um die Hausecke auf der anderen Straßenseite sehen konnte. Silber stand dort neben einem Trafohäuschen direkt am Bahnübergang. Die Schranke war unten. Silbers Rücken war durchgedrückt,
die Arme standen weit ab vom Körper. Dann ging das Zucken durch ihn hindurch, und er warf den Oberkörper nach vorn. Otto konnte den Schrei hören, der mit dem ersten Schwall kam, und dann auch das Pressen, das Silber mit einem hohen, rauen Ton begleitete.
Der W50 war mittlerweile nicht mehr zu hören, dafür wurde der heranrauschende Zug lauter, der sich vom Paradiesbahnhof näherte.
Silber übergab sich erneut. Das Geräusch, das er dabei produzierte, war für Otto nicht mehr zu hören. Denn der Zug rauschte heran. Wurde lauter und lauter.
Silber beugte sich wieder kurz nach vorn. Der Krampf, der durch den Leib fuhr, war schwächer als zuvor.
Otto atmete ganz tief ein.
Silber machte nun einen halben Schritt zurück und reckte den Hals vor. Er blickte zu Boden.
Otto atmete aus und wieder tief ein.
Der Zug war fast da. Hatte beinah die Kreuzung erreicht.
Silber stützte die Hände auf die Knie.
Der Zug war gleich da.
Otto blickte kurz nach links. Frei. Dann zur anderen Seite. Auch von dort war niemand zu sehen. Dann fing er an zu rennen.
Silber stand immer noch dort, wo er sich übergeben hatte. Der Kopf hing nach vorn. Sein Atem ging so schnell, dass Otto die Bewegung im Oberkörper sehen konnte, als er sich ihm mit langen Schritten näherte. Die Hände hielt er jetzt vor sich und verlangsamte die Geschwindigkeit, als der Zug die Kreuzung erreichte.
Im gleichen Moment stieß er Silber nach vorn.
Otto bremste abrupt ab und schloss die Augen.