104 | SA 17.12.1983
«Wir haben noch Zeit.» Otto spürte Bodos Hand auf der Schulter. Sie standen auf der Fußgängerbrücke und blickten auf das Saalewehr am Paradiesbahnhof. Das Wasser war grau und trüb.
«Ist doch egal. Wir trinken noch irgendwo ein Bier.» Otto machte sich los.
«Mann, du hast doch schon genug», rief Bodo ihm hinterher. «Dann bist du bis zum Spiel komplett besoffen.»
«Egal.» Otto war schon im Seidelpark. Das Stadion war nicht mehr weit. Drei Erfurter standen da, blickten auf das Wehr und den Fluss. Einer redete, die anderen hörten zu oder nicht.
Otto drehte sich kurz um. Bodo lehnte noch am Geländer.
Und die Erfurter standen da rum. Einfach so. Alle mit Jeansjacken, Aufnäher deutlich erkennbar in Rot und Weiß. Die Schals waren wegen der Kälte einmal um den Hals gelegt. Einer der drei war groß und jung, das war der, der ihm am nächsten stand. Der Zweite hatte eine gedrungene Statur, zu viel Fett, aber auch Muskeln, das erkannte Otto unter den Klamotten. Der Dritte war klein und drahtig, er war der Gefährlichste.
Otto nahm Anlauf und rannte die zwanzig Meter bis zu dem Trio.
Dem Drahtigen trat er in die Kniekehle. Er sackte weg, ohne sich groß zu beschweren. Otto erkannte, dass er nicht einmal zwanzig war. Den Gedrungenen zog er am Schal zu Boden und hieb ihm dabei mit der Faust ins Gesicht, das auch noch nicht richtig erwachsen aussah. Der Große machte noch eine erstaunte Miene, als ihm Otto in den Bauch schlug. Die Knie sackten ihm kurz weg, Otto ließ den Gedrungenen ganz los und trat dem Großen gegen eines der weichen Knie. Der fiel mit einem Schmerzensschrei hin.
Jetzt lagen sie alle am Boden.
«Otto?», hörte er seinen Bruder rufen. Und dann noch einmal panisch: «Otto?»
Der junge Drahtige, lange Nase über dem dünnen Schnurrbart, war auf allen vieren und versuchte sich zu erheben. Otto stellte sich vor ihn und trat ihm gegen das Kinn. Und sah fasziniert, welche Wirkung so ein Tritt hatte. Der Junge drehte sich und landete glatt auf dem Rücken, beide Hände am Hals, schlug er mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf.
«Was machst du?» Bodo war schon am Ende der Brücke angekommen. «Hör auf», rief er laufend.
Weil er kurz seinen Bruder im Blick hatte, bemerkte Otto nicht, dass der Gedrungene aufgestanden war. Der Schlag traf sein Ohr und löste einen kurzen, hellen Schrei aus, der nur für ihn zu hören war. Er fuhr herum und hackte dem Kerl den Ellbogen in die Nase, mit aller Kraft. Da sackte er sofort zusammen.
Der Große war auch wieder aufgestanden. Otto schubste ihn zu Boden, was erstaunlich einfach war, und warf sich dann auf ihn. Er holte mit rechts aus und schlug ihm die Faust irgendwo unters Auge.
Etwas brach.
Ein komischer Ton kam aus dem Mund, um den herum auch nur wenig Flaum zu sehen war. Otto holte noch einmal aus und hörte Bodos «Nein!», während sein Arm plötzlich festhing.
Bodo zog ihn von dem Großen herunter, der anfing zu weinen.
Die Hände in seinem Rücken, die ihn kurz darauf zurück zur Brücke stießen, mussten die seines Bruders sein. Otto spürte sie unter den Schulterblättern, während in seinem Kopf irgendetwas begann, sich ganz schnell zu drehen. Er machte einen Schritt, wurde wieder von hinten gestoßen, machte noch einen Schritt, stolperte und fing sich wieder. Noch ein Schritt, und er musste sich am Geländer der Brücke festhalten, als hinter ihnen eine Gruppe Fußballfans her trabte. Dann drehte sich wirklich alles.
Die Arme seines Bruders verhinderten, dass er hinfiel. «Otto, bist du bescheuert?», fragte Bodo. Nur seinen Mund konnte er sehen.
«Bist.»
«Du.»
«Bescheuert.»
In Ottos Kopf tanzte alles. «Ich kann die Erfurter einfach nicht leiden», sagte er.
Aus dem Park war noch ein leises Winseln zu hören.