1. Kapitel

Holden

»Was hast du mir noch verschwiegen?«, wispert Ember.

Blaulicht scheint von draußen in die Golden Bay Police Station und flackert über unsere Gesichter. Stimmen und Schritte dringen an mein Ohr. Ich kann noch immer nicht fassen, dass unser Vorhaben so schiefgegangen ist und ausgerechnet Embers Vater mich, Hendrick, Remi, den alten Murray und die anderen wegen Drogenhandels festgenommen hat. Die Handschellen schneiden in meine Haut, und der Polizist neben mir hält mich mit eisernem Griff am Arm fest.

Ember ist nur wenige Meter von mir entfernt, das Gesicht eine Maske aus Fassungslosigkeit und unterdrückten Gefühlen. Chief Jackson, Jayden und andere Polizisten haben sich um uns versammelt, bereit, sofort einzugreifen, wenn ich auch nur eine falsche Bewegung mache, aber alles, was ich sehe, alles, was ich wahrnehme, ist sie .

Die Wut und die Zweifel in ihren grünbraunen Augen. Das leicht gewellte rotblonde Haar, das ihr auf die Schultern fällt. Das dunkelgrüne Sommerkleid, das ihren schlanken Körper und ihre Kurven umschmeichelt. Die leichte Bräune ihrer Haut. Und wenn ich nähertreten, wenn ich ganz dicht vor ihr stehen würde, könnte ich die Handvoll Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken erkennen, die nur jetzt im Sommer, wenn sie kein Make-up trägt, zu sehen sind.

Aber ich kann nicht nähertreten – und zwischen uns scheint plötzlich ein ganzes Universum zu liegen.

Was hast du mir noch verschwiegen?

Wie ein Echo hallt ihre Frage in mir nach. Für einen Sekundenbruchteil zuckt mein Blick an ihr vorbei in Richtung ihres Vaters, zu schnell für Ember, um es zu bemerken. Aber er bemerkt es – und versteift sich.

Das ist meine Chance. Wochenlang hat Ember mich gefragt, was in jener Nacht passiert ist. Warum ich vor fünf Jahren einfach ohne ein Wort verschwunden bin und nie wieder den Kontakt zu ihr gesucht habe. Ihr Vater ist der Grund. Er hat mich damals erpresst und gezwungen, Golden Bay für immer zu verlassen. Heute Nacht hat er mich festgenommen und seine Tochter aufs Revier bestellt, um mich vorzuführen, um ihr zu zeigen, was für krimineller Abschaum ich bin. Und um mich loszuwerden – diesmal endgültig.

Wenn es je einen guten Moment gegeben hat, um Ember die ganze Wahrheit über jene Nacht und über Chief Jackson zu sagen, ist er jetzt gekommen. Doch dann sehe ich, wie sich ihr Vater neben sie stellt, die Hand auf ihrer Schulter, und sie sich vertrauensvoll in die Berührung lehnt. Er ist ihr Dad. Und obwohl ich ihn gerade abgrundtief hasse, weiß ein winzig kleiner Teil von mir dennoch, dass er all das für Ember getan hat. Um sie zu beschützen. Und ich weiß auch, dass ich die Beziehung zwischen den beiden für immer zerstören würde, wenn ich jetzt den Mund aufmache.

Also schweige ich. Behalte sein Geheimnis für mich. Ich habe schon genug kaputtgemacht, genug Menschen verletzt, denen ich niemals wehtun wollte. Ich kann und werde nicht auch noch den Rest von Embers Leben ruinieren.

»Es tut mir leid«, murmle ich stattdessen erneut und versuche die Reue, die Schuldgefühle und alles, was ich für sie empfinde, in diese vier Worte zu legen.

Doch in ihren Augen ist nur Wut. Schmerz. Und Resignation.

»Mir auch«, erwidert sie erstickt und macht auf dem Absatz kehrt.

Ich kann nichts anderes tun, als ihr nachzusehen, wie sie die Polizeistation und mein Leben verlässt, ehe ich endgültig abgeführt werde.