3. Kapitel

Holden
Fünf Jahre Zuvor

Ich starrte in das Whiskeyglas in meiner Hand und kniff die Augen zusammen, aber der Boden war noch immer zu sehen. Das Glas war schon wieder leer.

Scheiße.

Ich gab dem Barkeeper, dessen Namen ich bereits vergessen hatte, ein Zeichen, mir einen neuen Drink zu bringen. Er konnte nur ein paar Jahre älter sein als ich und musterte mich stirnrunzelnd von oben bis unten, während er mit einem Tuch über den Tresen wischte. »Denkst du nicht, dass du genug hattest?«

Und das von dem Kerl, der nicht mal meinen Ausweis verlangt hatte. Sollte er das mitten in den Staaten nicht tun? Galt hier nicht die Regel, dass man erst ab einundzwanzig Jahren Alkohol trinken durfte? Aber der Typ hatte mir, ohne mit der Wimper zu zucken, einen Whiskey hingestellt. Solange man bezahlte, schien alles andere egal zu sein. Was für ein Witz.

Vielleicht lag es aber auch daran, dass ich den dritten Abend in Folge auf demselben Stuhl in derselben heruntergekommenen Bar mitten im Nirgendwo in der Nähe der Ostküste saß und mich ins Koma soff. Es war das Einzige, was ich tat, seit ich Golden Bay verlassen hatte. Und Ember.

»Noch einen«, beharrte ich, überrascht davon, wie schwer es meiner Zunge fiel, die Worte zu formen.

Wenige Sekunden später stand ein frischer Drink vor mir.

»Frauenprobleme?«

»Will nicht drüber reden …«, brummte ich und trank einen großen Schluck.

Das Brennen in meinem Mund blieb aus. Wahrscheinlich hatte ich bereits alle Geschmacksnerven abgetötet. Dafür breitete sich eine angenehme Wärme in meinem Körper aus. Der Alkohol betäubte den Schmerz für ein paar Stunden, aber er konnte die Wahrheit nicht verbergen. Nicht auf Dauer. Er war ein schwacher Trost, aber immer noch besser als die verdammte Leere, die mich von innen heraus zerfraß. Mit jedem Schluck hoffte ich, dass der Schmerz ein Stückchen weniger werden würde. Dass die Erinnerungen an sie verblassen würden.

Vergeblich.

Ich hatte sie verloren, sie im Stich gelassen. Und ich konnte sie nicht mal kontaktieren. Nie mehr. Das war allein meine Schuld.

»Manchmal hilft es, sich einem Fremden anzuvertrauen.« Der Barkeeper zuckte lässig mit den Schultern und stellte mir ungefragt eine Schale mit Nüssen hin. »Glaub mir, in diesem Job hab ich einiges gehört, und ich wette, nichts von dem, was du mir erzählst, kann mich überraschen.«

Ich schnaubte, aber es klang mehr wie ein Gurgeln, weil ich mit dem Gesicht halb im Glas hing. Blinzelnd hob ich den Kopf. Whoa! Hatte der Raum vorhin auch schon geschwankt?

Shit. Vielleicht hatte ich doch übertrieben. Andererseits … wen kümmerte das schon? Es war schließlich nicht so, als hätte es noch Menschen in meinem Leben gegeben, die sich daran störten, wenn ich in einer namenlosen Stadt in einer namenlosen Bar hockte und genug Alkohol in mich reinschüttete, um meinen eigenen Namen zu vergessen.

Das klappte überraschend gut. Doch was ich trotz all den Drinks in den letzten Nächten nicht hatte vergessen können, war meine Vergangenheit. Was ich getan hatte. Und wen ich zurückgelassen hatte.

Fluchend rieb ich mir mit Daumen und Zeigefinger über die brennenden Augenlider.

»Ernsthaft, Mann.« Der Barkeeper stützte sich mit den Unterarmen auf den Tresen. »Wenn du in dem Tempo weitermachst, fällst du bald vom Stuhl; und dann hab ich den Ärger, mich um einen Rettungswagen kümmern zu müssen, damit sie dir im Krankenhaus den Magen auspumpen können. Darauf hab ich genauso wenig Lust wie du.«

Die Zukunft, die er für mich ausmalte, hätte mich vielleicht erschrecken und zur Vernunft bringen sollen, aber das Gegenteil war der Fall. Wenn ich im Krankenhaus landete, dann weil ich es nicht anders verdient hatte.

Gedankenversunken starrte ich auf die goldene Flüssigkeit in meinem Glas. Was machte es schon, wenn ich ihm meine Geschichte erzählte? Es würde ja sowieso nichts ändern.

»Ich wollte zusammen mit dem Mädchen, das ich mehr als alles andere liebe, von zu Hause abhauen. Aber statt wie vereinbart aufzutauchen, hab ich sie sitzen gelassen und bin ohne ein Wort gegangen.«

Stille.

»Warum?«, fragte der Barkeeper schließlich.

»Weil ich ein Arschloch bin.« Ich leerte das Glas in einem Zug und stellte es klirrend ab. »Ich hab mich mit den falschen Leuten abgegeben und die falschen Dinge getan. Und ihr Vater – ein Cop – hat mich erwischt und dazu gezwungen, zu verschwinden und nie wieder Kontakt zu ihr aufzunehmen. Ich habe sie enttäuscht. Ich habe sie verloren und kann es nicht rückgängig machen, ganz egal, wie sehr ich es mir wünsche.«

»Kannst du ihr nicht schreiben? Sie anrufen und ihr alles erklären?«

Ich schüttelte den Kopf so heftig, dass mir schwindlig wurde. Mit zusammengebissenen Zähnen klammerte ich mich an die Theke.

»Ihr Vater kontrolliert ihr Handy. Er hat all unsere Nachrichten gelesen und wusste von unserem Plan. Wenn ich mich bei ihr melde, wird er ihr das Geld fürs College wegnehmen und alles dafür tun, dass sie nie von dort wegkommt.«

»Scheiße, Mann.« Zischend stieß er den Atem aus. »Das ist echt abgefuckt.«

Die Welt hatte endlich aufgehört, sich zu drehen.

»Wem sagst du das …«, murmelte ich und griff nach meinem Glas, nur um festzustellen, dass es erneut leer war.

»Aber dich hier zu Tode zu saufen, wird niemandem helfen. Dir nicht – und ihr erst recht nicht.«

Ihr. Ember. Allein ihren Namen zu denken, tat weh. Wie ein glühender Haken, der sich in meine Eingeweide grub. Wieder und wieder und wieder.

Ich hatte sie verlassen. Mehr noch: Ich hatte ihr Vertrauen missbraucht und sie verletzt. Ich hatte ihr helfen, hatte sie retten und beschützen wollen und am Ende all meine Versprechen gebrochen.

Dieses Mädchen … Sie war nicht nur irgendjemand für mich. Sie war Ember. Meine beste Freundin. Ich kannte sie fast mein ganzes Leben lang. Ich hatte sie lächeln und weinen gesehen, sie getröstet und mit ihr gelacht, war mit ihr wütend gewesen, hatte sie umarmt, geküsst, gestreichelt, zum Höhepunkt gebracht …

Fuck.

Ich ballte die Hände zu Fäusten.

Sie war diejenige, die zu jedem meiner Eishockeyspiele gekommen war und mich angefeuert hatte. Sie war diejenige, die mich zusammengestaucht hatte, als ich mich nur noch ins Training und in Hendricks kleine Jobs gestürzt hatte, wodurch ich die Highschool komplett vernachlässigt hatte. Sie war diejenige, die mich – ohne es zu wissen – auf dem rechten Weg gehalten hatte, ganz egal, wie oft ich abgedriftet war.

Mit ihr ergab alles einen Sinn. Ohne sie hatte nichts mehr eine Bedeutung.

Der Barkeeper musterte mich besorgt, sein Gesicht war von einer Mischung aus Mitleid und Ratlosigkeit gezeichnet. Wahrscheinlich versuchte er, mir irgendwie zu helfen. Mich zu retten. Aber es gab keine Rettung für mich. Ich hatte alles zerstört, was mir wichtig gewesen war. Selbst die Anrufe und Nachrichten von Mom und Gemma hatte ich in den letzten Tagen und Nächten ignoriert. Ich hatte auch ihnen wehgetan.

Mir blieb nur noch die verdammte Strafe für all das.

»Du irrst dich«, antwortete ich verspätet und wartete, bis der nächste Drink vor mir stand. »Hier zu sitzen und mich zu betrinken, ist genau das, was ich jetzt tun sollte.« Ich prostete ihm zu und führte das Glas an die Lippen.

Der höllische Kater am nächsten Morgen oder der Trip ins Krankenhaus waren das Einzige, was ich verdient hatte. Und ich würde mich weiter selbst bestrafen, bis es irgendwann, eines Tages, vielleicht nicht mehr so beschissen wehtun würde.

Die Bar verschwamm um mich herum, während ich den nächsten Schluck nahm. Und noch einen.

Ich würde mich selbst zerstören. Stück für Stück. Und es war mir völlig egal, denn das Wichtigste auf der Welt hatte ich bereits verloren.