10. Kapitel

EMBER

Der Krach ist ohrenbetäubend. Vielleicht hätte ich mir Kopfhörer besorgen sollen, um den Lärm zu dämpfen, aber jetzt ist es dafür zu spät. Außerdem will ich hören und sehen, wie alles zu Bruch geht, als ich mit dem Hammer auf die Wand vor mir einschlage.

Gipsstücke fallen heraus und zerplatzen auf den mit Folie bedeckten Bodendielen. Mehrere Risse ziehen sich durch die Wand. Ich schiebe mir die Schutzbrille auf der Nase höher, hole erneut aus und schlage zu. Wieder und wieder, bis mir der Schweiß über den Rücken läuft, meine Arme brennen und die Holzbalken unter dem Gips zum Vorschein kommen.

Rechts von mir bemerke ich Shae, die das Zimmer mit zwei Flaschen gekühlter Limo betritt. Genauer gesagt das alte Schlafzimmer von Mom und Dad mit dem ehemaligen begehbaren Kleiderschrank, dessen Trennwand ich gerade vernichte. Sie war schon die ganze Zeit über schweigsam und mustert mich jetzt besorgt.

»Wie wär’s mit einer Pause?«, ruft sie und stellt die Flaschen auf das Fensterbrett, das am weitesten von mir entfernt ist.

»Ich brauche keine Pause.«

»Ember«, sagt sie leise tadelnd und bleibt mit etwas Sicherheitsabstand wenige Schritte von mir entfernt stehen. »Du hast in den letzten zwei Tagen fast nichts anderes gemacht, als in diesem Haus zu arbeiten. Mach nicht denselben Fehler wie damals. Du musst deine Gefühle zulassen.«

»Tu ich doch. Oder wonach sieht das gerade für dich aus?« Kaum ausgesprochen, hole ich erneut mit dem Hammer aus.

Den nächsten Schlag spüre ich bis in die Knochen. Diesmal kracht ein etwa dreißig Zentimeter großer Brocken auf den Boden. Ich springe gerade rechtzeitig zurück, damit er nicht auf meinen Füßen landet.

Unwillkürlich verziehe ich das Gesicht. Neben Lärmschutz wären auch passende Arbeitsschuhe eine gute Investition gewesen, wenn ich denn das Geld dafür hätte.

Oder die richtige Kontaktperson, die ich danach fragen könnte.

In der Sekunde, in der meine Gedanken eine ganz bestimmte Richtung einschlagen wollen – nämlich zu ihm  – , spricht Shae weiter.

»Das ist toll, ehrlich, und ich bin total für den therapeutischen Nutzen davon, auf Dinge einzuschlagen, aber du solltest auch darüber reden. Du weißt schon, deine Gefühle in Worte fassen, statt sie nur an einer Wand auszulassen.« Sofort hebt sie die Hände, als wollte sie mich beschwichtigen. »Nicht, dass ich es dir verübeln würde. Die Wand war echt hässlich. Was fällt ihr überhaupt ein, hier zu stehen?«

Wider Willen muss ich lachen – und verfluche Shae im gleichen Atemzug. An diesem Vormittag war ich so gut darin, mich in meine Wut und mein Selbstmitleid hineinzusteigern, und jetzt kommt sie daher und macht alles zunichte.

Doch so schnell mein Lachen gekommen ist, so schnell vergeht es mir wieder, als ich mich erinnere, warum ich hier stehe.

»Ernsthaft, Em.« Shae tritt vorsichtig näher. »Friss es nicht in dich rein. Nicht schon wieder.«

Ich verkrampfe mich unweigerlich. Versuche alles, um die Gedanken, die Emotionen und Erinnerungen zurückzuhalten, sie weiterhin in mir einzuschließen, sie zu ersticken und zu verdrängen … und scheitere.

Ich wollte dich nie verletzen. Das ist das Letzte, was ich wollte.

Ich kann das einfach nicht mehr.

Du glaubst gar nicht, wie verflucht leid es mir tut.

»Warum?!«, platzt es aus mir heraus. Wütend werfe ich den Hammer zu den Gipsstücken auf den Boden und reiße mir die Schutzbrille herunter. »Warum hat er das getan? Wie konnte er das nur vor mir verheimlichen? Wieso hat er mir nicht vertraut?«

Meine Stimme bebt, während ich mich auf den staubigen Boden setze und den Kopf in meine Hände sinken lasse. Diesmal kann ich die Tränen nicht zurückhalten. Sie schwappen über, genau wie all die bohrenden, stechenden Empfindungen in mir. Die Frage nach dem Warum nagt an mir, wie ein unablässiges Pochen in meinem Kopf, das mich keine Sekunde zur Ruhe kommen lässt. Ich verstehe einfach nicht, wie Holden mich dermaßen verletzen konnte. Wie er das, was wir hatten, so leichtfertig wegwerfen konnte.

Und wofür? Um mich zu beschützen ? Er hätte mir mehr zutrauen sollen. Verdammt, er hätte mir vertrauen sollen, statt mich komplett auszuschließen.

»Wie konnte er das tun?«, stoße ich schluchzend hervor. »Nach allem, was passiert ist … Nach allem, was zwischen uns war … Wie konnte er mir das antun, Shae?«

Sie zuckt zusammen. Ihre Miene ist so voller Mitgefühl, dass ich schreien will.

Langsam setzt sie sich neben mich und schlingt einen Arm um meine Schultern. »Ich weiß es nicht, Em.«

»Es tut so weh«, flüstere ich erstickt und lasse meinen Kopf gegen ihren sinken. »Wieso tut es immer noch so weh?«

»Weil du ihn liebst. Und ich glaube, du hast nie damit aufgehört.«

Ich will ihr sofort widersprechen. Protestieren, dass das Quatsch ist. Kompletter Unsinn. Absolut unrealistisch nach all der Zeit und dem, was er getan hat. Aber mir kommt kein Wort über die Lippen. Keine einzige Silbe.

Denn Shae hat recht.

Ich habe es nie ausgesprochen, es nie zugegeben, nicht einmal mir selbst gegenüber, aber … ich liebe ihn. Ich liebe ihn. Andernfalls würde es nicht mehr dermaßen schmerzen.

Ich kann nicht mehr klar denken, bin meinen Gefühlen hilflos ausgeliefert. Und ganz egal, was ich versuche, sie verschwinden nicht. Ich kann sie nicht herausweinen, herausschreien, herausschlagen. Sie sind stets da, bleiben an mir haften, ganz egal, was ich tue. Ob ich eine Wand zertrümmere, meine Empfindungen laut ausspreche oder weinend zusammenbreche.

Es ändert nichts.

Und Shae … Shae hält mich fest. Keine Ratschläge, keine tröstenden Worte, nichts könnte die Wunden in mir heilen. Also sagt sie nichts und bleibt einfach nur bei mir, wie sie es versprochen hat.

Ich weiß nicht, wie lange wir schweigend nebeneinandersitzen, unsere Atemzüge und mein Schluchzen die einzigen Geräusche weit und breit.

Es gibt keine Lösung, keinen Plan, keine Hoffnung auf ein Happy End. Hier und jetzt existieren nur der Schmerz, der mich von allen Seiten erdrückt, und die Sehnsucht, die mich trotz allem quält.

Manchmal bricht uns das Leben – und es gibt keine Worte auf der Welt, die das wieder in Ordnung bringen könnten.