14. Kapitel

Holden

Montagmorgen parke ich den Pick-up auf dem Parkplatz neben der Baustelle, auf der ich bis zum Tag meiner Verhaftung noch gearbeitet habe, und steige aus. Männer und Frauen laufen mit Schutzhelmen und Sicherheitswesten geschäftig über das Grundstück, auf dem einmal eine moderne Ferienanlage stehen wird.

Die Sonne scheint von einem strahlend blauen Himmel, und ich atme tief durch. Staub und der Geruch nach Zement, Stahl und Erde liegt in der Luft. Das dröhnende Geräusch von Bohrern und Sägen übertönt jedes Gespräch.

Nach allem, was passiert ist, bin ich hier nicht willkommen, das ist mir klar. Trotzdem trifft mich das warnende Prickeln in meinem Nacken unvorbereitet. Ich kneife die Augen zusammen und lasse den Blick über den Parkplatz und die Baustelle wandern. Nach dem, was Jayden mir über Remi erzählt hat, muss ich mit allem rechnen, aber mir fällt nichts Verdächtiges auf. Keine wartenden Schlägertypen. Keine auffällig unauffälligen Autos mit getönten Scheiben. Nichts.

Entschlossen setze ich mich in Bewegung, die Schultern gestrafft, den Kopf erhoben. Bloß keine Schwäche zeigen. Zu meiner Überraschung entdecke ich als Allererstes ausgerechnet meinen ehemaligen Kollegen Darren. Er steht im T-Shirt und mit schweren Handschuhen neben einem Becken, das Teil der Swimmingpool-Anlage werden soll, und montiert einen Stützpfeiler.

»Hey Holden.« Er winkt und wirft mir ein flüchtiges Lächeln zu, als wäre nichts gewesen. Als wäre ich nicht öffentlich verhaftet und für zwei Nächte in Untersuchungshaft gewesen, sodass ich nicht zur Arbeit kommen konnte und alle hängen gelassen habe. Als wäre ich nicht gefeuert worden. Und als hätte ich nicht Amelie – seine kleine Schwester  – gedatet und ihr dann ziemlich schnell deutlich gemacht, dass nie etwas aus uns werden kann.

Der Typ hat echt ein Herz aus Gold – oder all das ist ihm einfach egal, weil er sich lieber seine eigene Meinung bildet.

Die meisten anderen Arbeitenden wenden dagegen den Blick ab, sobald ich in ihre Nähe komme, und tun so, als hätten sie mich nicht bemerkt. Zwei von ihnen mustern mich sogar offen feindselig, während ich an Betonmischern, Baggern und Kran vorbeimarschiere.

Bis vor Kurzem haben wir fast jeden Tag stundenlang Seite an Seite gearbeitet und die Mittagspausen zusammen verbracht. Wir waren ein Team. Jetzt ist praktisch nichts mehr davon zu spüren. Ein einziger Fehler – und du hast verschissen.

Vor dem Container, in dem sich das Büro meines ehemaligen Chefs befindet, bleibe ich stehen. Ich lege mir die Worte in Gedanken zurecht, atme tief durch, dann klopfe ich einmal kurz und fest an die Tür.

Es dauert eine Ewigkeit, bis jemand reagiert, doch schließlich schwingt die Tür auf.

»Holden.« Gonzalez wirkt nicht begeistert, mich zu sehen. Verblüfft, ja, und zum Glück nicht angepisst, aber auf keinen Fall begeistert.

»Kann ich kurz mit dir reden?«, frage ich, bevor er mich abwürgen und wegschicken kann. »Bitte.«

Er zögert, macht dann jedoch einen Schritt zur Seite und lässt mich eintreten.

Das Innere des Containers sieht genauso aus wie beim letzten Mal, als ich hier drin war: Pläne, Aktenordner, Rechnungen und Bauzeichnungen liegen auf dem Schreibtisch verteilt. Dazwischen drei ausgetrunkene Kaffeetassen und ein aufgeklappter Laptop. Ganz offensichtlich habe ich ihn bei der Arbeit gestört.

Als die Tür hinter uns zufällt, dringt der Baulärm von draußen, das Bohren, Hämmern und Quietschen der Sägen nur noch gedämpft herein. An der Wand direkt daneben hängen Gonzalez’ eigene Sicherheitsweste und sein Schutzhelm.

Er geht an mir vorbei, setzt sich auf die Tischkante und verschränkt die Arme vor der Brust. Dafür, dass er um die sechzig sein muss, ist er noch immer eine beeindruckende Erscheinung mit dem breiten Kreuz und den muskulösen Armen. »Hast du meine Nachricht etwa nicht bekommen?«

»Doch. Und genau deshalb bin ich hier.« Ich fahre fort, bevor er etwas erwidern kann. »Hör mal, ich weiß, dass die Leute reden und wie schnell sich Neuigkeiten auf der Insel verbreiten. Aber ganz egal, was du gehört hast, ich wurde zu Unrecht verhaftet. Mein Anwalt hat das geklärt.« Es kommt mir noch immer seltsam vor, das zu sagen und Peter in dieser Rolle zu sehen, aber ich tue es. Ich werde jede Möglichkeit nutzen, die mir zur Verfügung steht, um diesen Job zurückzubekommen. »Ich habe einen Fehler gemacht und werde die Konsequenzen tragen. Aber du weißt, dass ich gute Arbeit leiste. Ich will weiter für dich arbeiten.«

Sekunden ticken nach meiner kleinen Ansprache vorbei. Sekunden, in denen keiner von uns etwas sagt. In denen mich Gonzalez prüfend von oben bis unten mustert.

Schließlich löst er mit einem tiefen Seufzen die vor der Brust verschränkten Arme, was ich zumindest als kleinen Sieg verbuche. Ich dringe zu ihm durch. Ich kann etwas ausrichten, kann mir den Job zurückholen.

»Du warst eine gute Ergänzung für mein Team, daran zweifelt niemand, ich am allerwenigsten. Aber die Verhaftung und dein Kontakt zu diesen Leuten …« Bedauernd schnalzt er mit der Zunge. »Seien wir ehrlich, Thorne. Es interessiert mich einen Scheißdreck, was du in deiner Freizeit machst und mit wem du dich abgibst. Das ist ganz allein deine Sache. Aber alle wissen über die Verhaftung Bescheid. Du hast einen schlechten Ruf, und das kann ich in meiner Firma nicht gebrauchen. Außerdem hat mich Polizeichef Jackson darüber informiert, dass du vorbestraft bist. Davon wusste ich nichts. Als ich dich bei deinem Einstellungsgespräch danach gefragt habe, hast du gelogen.«

Fuck. My. Life.

Ich war so auf die aktuellen Geschehnisse fokussiert, dass ich die Sache in Toronto komplett vergessen habe. Natürlich ist mir klar, dass ich meine Haftstrafe hätte erwähnen sollen, wenn mein zukünftiger Arbeitgeber danach fragt, aber damals habe ich es unter den Tisch fallen lassen, um überhaupt einen Job zu finden. Niemand will einem Ex-Knacki eine Chance geben. Völlig egal, weswegen oder für wie lange er verurteilt wurde.

»Tut mir leid«, murmle ich, weigere mich jedoch einzuknicken. »Aber … ganz ehrlich? Hättest du mich überhaupt eingestellt, wenn du von Anfang an davon gewusst hättest?«

»Nein. Das hätte ich nicht.«

Die Antwort kommt prompt und bestätigt all meine Befürchtungen. Hätte ich die Wahrheit gesagt, hätte ich den Job nicht bekommen. Manchmal frage ich mich wirklich, warum es einem so schwer gemacht wird, ein braver, gesetzestreuer Bürger zu sein – und so verflucht leicht, gegen die Regeln zu verstoßen.

Mein Blick zuckt durch das Büro, als könnte ich darin etwas finden, was mir weiterhilft. Theoretisch darf ein potenzieller Arbeitgeber deine Haftstrafe nicht als Grund anführen, um dich nicht einzustellen. Aber natürlich sieht die Praxis völlig anders aus.

»Glaub mir, ich verstehe deine Bedenken«, versuche ich es noch einmal und richte all meine Aufmerksamkeit auf den älteren Mann. »Aber ganz egal, was die Leute reden, ich bin unschuldig. Heute genau wie damals. Es gibt Zeugen von neulich Nacht, die für mich ausgesagt haben und bestätigen können, dass ich bloß versucht habe zu helfen. Wir wollten diese Typen drankriegen. Jetzt möchte ich einfach nur meinen Job zurück. Alles, worum ich dich bitte, ist eine zweite Chance.«

Gonzalez reibt sich über den Bart. »Ich schätze deinen Einsatz und deine Hartnäckigkeit, Thorne, aber lass mich ganz ehrlich sein. Ich habe eine Verantwortung diesem Unternehmen, den anderen Mitarbeitenden und unserer Kundschaft gegenüber. Würde es nur um diese fälschliche Verhaftung vor einer Woche gehen, wäre das eine andere Sache. Dann könnten wir darüber reden. Aber nachdem ich nun weiß, dass du mir von Anfang an wichtige Informationen vorenthalten hast? Tut mir leid, aber mein Vertrauen hast du damit verspielt. Ich werde dich nicht wieder einstellen, und nichts, was du sagst, wird etwas daran ändern.«

Ich starre ihn an. Das war’s also?

Am liebsten würde ich auf etwas einschlagen, aber ich unterdrücke den Impuls. Weil Gonzalez recht hat. Genau wie Ember. Statt von Anfang an offen und ehrlich zu sein, habe ich ihnen wichtige Details verschwiegen und sogar gelogen, weil ich dachte, das wäre der einzig richtige Weg. In Wahrheit war es nur der einfachste.

Und jetzt muss ich die Konsequenzen tragen.

Gonzalez steht auf und hält mir die Hand hin, die ich zum Abschied schüttle. »Du hast einiges auf dem Kasten, Thorne. Mach dir das Leben nicht schwerer, als es sein muss.«

Ich nicke, auch wenn ich nicht weiß, ob ich diesen Rat beherzigen kann – oder ob es dafür nicht längst zu spät ist. Denn die Dunkelheit scheint mir zu folgen, ganz egal, wohin ich gehe und was ich tue. Wenn es nicht die von außen ist, dann die in meinem Inneren. Und die kann ich niemals abschütteln.

»Trotzdem danke, dass du dir die Zeit genommen hast, mich anzuhören.«

»Natürlich.«

Ein letztes Mal nicke ich Gonzalez zu, dann verlasse ich sein Büro und marschiere über die Baustelle zurück zu meinem Wagen. Diesmal meide ich jeden Blickkontakt, ignoriere das warnende Prickeln in meinem Nacken und sehe nicht mal zu Darren hinüber. Die Baustelle war kein Traumjob, aber er hat mir Spaß gemacht und Geld eingebracht. Es war ehrliche Arbeit mit guten Leuten, doch das ist jetzt vorbei. Ich habe riesigen Mist gebaut. Und manches davon lässt sich nicht einfach wiedergutmachen. Manches ist für immer gestorben.