17. Kapitel

Holden

Alles wird gut. Früher oder später muss es das doch werden – oder nicht? Doch noch während ich mir das in Gedanken versichere, glaube ich mir selbst kein einziges Wort. Nicht nach allem, was geschehen ist, und erst recht nicht, als ich die Mail auf meinem Handy lese.

Wir bedauern Ihnen mitteilen zu müssen, dass wir die Stelle anderweitig besetzt haben …

Fluchend schalte ich das Display aus und schiebe das Handy in meine hintere Hosentasche, statt es gegen die Hauswand zu werfen, was ich jetzt viel lieber tun würde. Leider kann ich mir kein neues leisten und hätte ohne sogar noch schlechtere Aussichten auf einen neuen Job.

»Alles in Ordnung?« Mom taucht vor mir auf, in einer uralten Latzhose, die sie trotzdem jünger aussehen lässt, das Haar zurückgebunden. An ihrem Gürtel baumeln Handschuhe.

»Ja«, behaupte ich, aber wahrscheinlich sieht sie mir an, dass es gelogen ist.

Egal. Ich will nicht darüber reden. Weder darüber, wie frustrierend es ist, um Arbeit betteln zu müssen, noch darüber, wie demütigend es sich anfühlt, wieder mal abgewiesen zu werden. Meist ohne offensichtlichen Grund, dabei kennen wir den alle: Ich bin vorbestraft. Ich war im Gefängnis und wurde vor über einer Woche in aller Öffentlichkeit vom Polizeichef höchstpersönlich verhaftet und abgeführt.

Solche Dinge sprechen sich herum, also sollte es mich nicht weiter überraschen, wie verflucht schwierig es ist, an einen Job zu kommen. Und wenn das nicht langsam klappt, habe ich ein Problem. Beck hat mir heute Morgen zwar freundlicherweise angeboten, im Turner’s auszuhelfen, aber das Team ist vollzählig und ich kann nur einspringen, wenn jemand anderes ausfällt. Das genügt vielleicht eine Weile zur Überbrückung, langfristig kann ich davon jedoch nicht leben.

Ich würde auch im Baumarkt nach Arbeit fragen, wenn ich Mom damit nicht in eine unangenehme Situation bringen würde, also lasse ich das lieber. Wenigstens hat sie endlich eingewilligt, dass ich ihr dabei helfe, das Dach auszubessern. Sie will es selbst machen, was ich respektiere, aber ich bin auch froh, dass sie wenigstens um Unterstützung bittet.

»Lass uns loslegen.« Ich gehe zur Leiter hinüber, die seitlich am Haus lehnt, und rüttle sicherheitshalber noch mal daran, aber sie bleibt stabil stehen.

Es hat seit Tagen nicht mehr geregnet, und die Sonne knallt auf uns herab, also sollte das Dach trocken genug sein. Außerdem hat Mom bereits alle beschädigten und fehlenden Schindeln inspiziert und Ersatz im Baumarkt besorgt. Jetzt beginnt die eigentliche Arbeit.

Ein letztes Mal überprüfe ich meinen Werkzeuggürtel, dann steige ich die Leiter als Erstes hinauf. Mom folgt mir. Es ist nicht zu übersehen, dass sie weiß, was sie tut; ohne zu zögern, macht sie sich mit ruhigen, geübten Bewegungen daran, die Nägel der ersten Schindel zu entfernen.

»Ist nicht dein erstes Mal auf dem Dach, oder?«, frage ich und kümmere mich ebenfalls um eine beschädigte Stelle, sehe aber immer wieder zu meiner Mutter hinüber.

Unter uns fahren Autos die Straße entlang, Leute gehen mit ihren Hunden spazieren, Fahrradkuriere düsen klingelnd vorbei.

Mom lächelt angestrengt. »Ich wohne schon mein ganzes Leben auf dieser Insel, und als ich diese Wohnung gekauft habe, habe ich die Verantwortung dafür übernommen.«

Das beantwortet nicht meine Frage.

Sie scheint mir meine Gedanken anzusehen. Seufzend legt sie die Schindel beiseite und widmet sich den nächsten Nägeln. »Ich habe mich immer um dieses Dach gekümmert – als du und Gemma noch klein wart genau wie heute und, so Gott will, auch noch in vierzig Jahren, bis ich zu alt und gebrechlich bin, um die Leiter hochzusteigen.«

Ich zögere. »Was ist mit der Zeit davor? Mit ihm

Meinem Erzeuger, über den wir nicht reden. Ich nenne ihn bewusst nicht Vater , weil er nie einer war. Für Gemma ein paar Jahre lang, aber nie für mich.

Mom hält einen Moment lang inne. Als sie weitermacht, wirken ihre Bewegungen schneller, beinahe wütend. »Er hat nie geholfen. Selbst als er noch da war, war ich immer auf mich allein gestellt.«

Wut kocht in mir hoch, und ich balle die freie Hand zur Faust. Wären wir nicht auf dem Dach, würde ich sie in den Arm nehmen. Ich habe immer das Bedürfnis verspürt, mich bei ihr dafür zu entschuldigen, dass er gegangen ist, als ich noch ein Baby war. Als wäre es an mir wiedergutzumachen, was er verbockt hat. Als wäre er meinetwegen gegangen. Doch vor dem Hintergrund dessen, was sie mir gerade erzählt hat, verblasst dieser Drang ein wenig.

»Ich bin froh, dass du mich helfen lässt«, sage ich schließlich. Vor allem, da ich nur zu gut weiß, dass es ihr nicht leichtfällt, um Hilfe zu bitten, geschweige denn sie anzunehmen.

Sie lächelt mir zu. »Ich auch. Und ich bin wirklich glücklich darüber, dass du wieder zu Hause bist.«

Etwas Bittersüßes mischt sich in die Stimmung zwischen uns. Mom hat mir nie Vorwürfe gemacht. Nicht, nachdem ich vor fünf Jahren ohne Vorwarnung abgehauen bin. Nicht, als ich in Toronto im Gefängnis saß. Und auch nicht nach meiner kürzlichen Verhaftung. Sie war immer für mich da, egal, wie viel Mist ich gebaut habe.

»Danke, Mom.« Meine Stimme klingt heiser, trotzdem spreche ich weiter. »Das bin ich auch.«

Und ich werde alles dafür tun, dass ich hierbleiben kann. Selbst wenn ich den beschissensten Job der Welt dafür machen muss. Hauptsache, ich bekomme einen.

In den nächsten Stunden arbeiten wir Seite an Seite, entfernen beschädigte und lose Schindeln, ersetzen die Dachpappe an den Stellen, wo es nötig ist, versiegeln sie mit Kleber und fangen damit an, die neuen Schindeln auf dem Dach zu befestigen.

Irgendwann nach der Mittagspause höre ich Schritte direkt neben dem Haus, dicht gefolgt von Peters Stimme.

»Das sieht gut aus.« Er steht ein paar Meter entfernt, ganz businesslike im Anzug, die Hand schützend über den Augen, und schaut zu uns hoch.

Mom winkt ihm erfreut zu. »Peter! Wie schön, dich zu sehen.«

Ich kann nicht anders, als zu grinsen. »Willst du mitmachen?«

Peter winkt ab. »Lieber nicht, meine Talente liegen woanders. Außerdem habe ich gleich einen Termin mit einem neuen Mandanten hier in der Nähe, also dachte ich, ich schaue mal vorbei.«

»Hast du Hunger?«, fragt Mom und wischt sich mit dem Unterarm über die verschwitzte Stirn. Es ist ohnehin ein warmer Tag, aber hier oben ist es brütend heiß. »Wir haben noch etwas vom Mittagessen übrig. Soll ich es dir aufwärmen?«

Gerade als er antworten will, geht unten die Tür auf und unsere Nachbarn, Mr. und Mrs. Seyfried, treten nach draußen. »Peter! Was für eine nette Überraschung.«

Sie bleiben neben ihm stehen und begrüßen Mom mit derselben Herzlichkeit, doch als ihr Blick auf mich fällt, verändert sich der Ausdruck auf ihren Gesichtern.

Ich kenne die beiden schon mein halbes Leben lang. Sie waren immer höflich, zuvorkommend und fast schon zu nett. Zumindest wollte ich als Teenager definitiv nicht ständig von Mrs. Seyfried umarmt werden, habe es aber über mich ergehen lassen, weil es die alte Dame glücklich macht.

Doch als sie mich jetzt mustern, ist es, als hätten sie einen Fremden vor sich. Mehr noch: jemanden, den sie nicht ausstehen können.

»Nun.« Mrs. Seyfried wendet sich abrupt ab. Ihre Stimme klingt kalt. »Wir müssen los. Nicht wahr, Rupert?«

Ich beiße die Zähne zusammen und senke den Blick.

Mom räuspert sich hingegen hörbar.

Widerwillig sieht Mrs. Seyfried zu mir zurück und legt dabei beinahe schützend die Hand auf den Arm ihres Mannes, der sich schwer auf den Rollator stützt. »Holden.« Sie nickt mir knapp zu. Doch gerade, als sie weitergehen will, scheint sie es sich noch mal anders zu überlegen. »Ich bin maßlos von dir enttäuscht. Zu meiner Zeit haben die Leute gelernt, ihren Namen sauber zu halten. Weißt du eigentlich, was das für deine Familie bedeutet? Wir hätten mehr von dir erwartet.«

»Wie bitte?!«, zischt Mom.

Peter bleibt ruhig, aber seine Miene ist abweisend geworden. »Soweit ich weiß, gilt in diesem Land noch immer die Unschuldsvermutung – und Holden wurde freigelassen, nachdem er zu Unrecht verhaftet wurde.«

Doch Mrs. Seyfried hört ihm gar nicht richtig zu. »Mit so jemandem wollen wir nichts zu tun haben.«

Nach diesen Worten wenden sie und ihr Ehemann sich endgültig ab und hinterlassen ein Schweigen zwischen uns, das lauter als Donner nachhallt.

Ich bin wie erstarrt. Klar habe ich die Konsequenzen seit meiner Entlassung zu spüren bekommen, schließlich hat Gonzalez mich gefeuert und ich suche immer noch händeringend nach neuer Arbeit. Aber diese Worte aus dem Mund der netten alten Dame zu hören … Scheiße, das tut weh. Und es zeigt mir unmissverständlich, dass manche Fehler nicht wiedergutzumachen sind. Manche Wunden sind zu tief, um sie zu heilen.

Unweigerlich frage ich mich, ob es Ember wohl so geht nach allem, was ich ihr angetan habe. Wenn sie nie mehr ein Wort mit mir sprechen würde, könnte ich es ihr nicht mal verübeln.

»Also das …« Mom schnappt empört nach Luft. »Das ist unerhört! Was fällt dieser Frau eigentlich ein?«

Auch Peter wirkt zerknirscht und verzieht entschuldigend das Gesicht, obwohl er genauso wenig für diese Situation kann wie Mom. Das habe ich mir ganz allein zuzuschreiben.

»Schon gut.« Ich räuspere mich und steuere die Leiter an. »Wenn es okay ist, würde ich gern eine kurze Pause einlegen und … etwas besorgen.«

Das Bedürfnis abzuhauen, mich der Situation und dem Mitleid zu entziehen, ist übermächtig. Ich muss hier weg, brauche einen klaren Kopf.

»Natürlich«, erwidert Mom sofort.

Ich spüre ihre und Peters besorgte Blicke im Rücken, als ich zum Pick-up marschiere, den ich die Straße hinunter geparkt habe – glücklicherweise in der entgegengesetzten Richtung als die, die Mrs. und Mr. Seyfried eingeschlagen haben. Eine weitere Begegnung mit den beiden würde ich nicht ertragen.

Gleichzeitig bin ich Mom und Peter so verflucht dankbar, dass ich etwas tun muss . Ich will mich erkenntlich zeigen, weil es eben nicht selbstverständlich ist, nach diesem ganzen Scheiß zu mir zu stehen und an mich und meine Unschuld zu glauben. Also steige ich in den Wagen und steuere das Poison Ivy an, das Café mit dem besten Gebäck auf der ganzen Insel.

Wenn ich nicht schnell einen vernünftigen Job finde, wird so etwas bald nicht mehr möglich sein, weil ich kein Geld haben werde. Aber heute geht es. Und heute will ich meiner Familie, will ich den wenigen Menschen, die noch zu mir halten, etwas Gutes tun und mich bei ihnen bedanken.